Zwischen Gott und TikTok

28.06.2024 um 13:41 von Vladimir Vertlib

Die Presse“, Wien, „Spectrum“, S. I und II

Wenn mich in den vergangenen Jahren etwas in meinen Gesprächen mit Jugendlichen überrascht hat, dann ist es die Selbstverständlichkeit, mit der sie auf reaktionäre Denkmuster zurückgreifen, die sie mit Verweis auf ihren Glauben begründen.

Als ich in der Unterstufe eines Gymnasiums in Wien war, hatte ich einen Geografie- und Turnlehrer, dessen früheste Erinnerungen in den Bürgerkrieg des Jahres 1934 zurückreichten. Mit vier Jahren musste er sich mitten in der Stadt flach auf den Boden legen, um nicht Opfer eines Schusswechsels zwischen Heimwehr und Schutzbund zu werden. Das Pfeifen der Kugeln hatte er fast 50 Jahre später immer noch im Ohr. Davon erzählte er uns zehn- und elfjährigen Gymnasiasten mehrmals, wobei der launige Tonfall das erlebte kindliche Trauma kaum kaschieren konnte.

Meinen Mitschülerinnen und Mitschülern waren die Geschichten unseres Lehrers gleichgültig. Während sie mich erschütterten, waren sie für die anderen Kinder in meiner Klasse kein Thema; jedenfalls keines, das angesprochen wurde. Es war eine Zeit, als Geschichte stets präsent war – doch fast immer stumm blieb. Im Gebäude des Gymnasiums, das ich besuchte, war 1938 ein Gefängnis der SS untergebracht gewesen. Während meiner gesamten Schulzeit wurde das in der Schule kein einziges Mal erwähnt.

Die dunkle Epoche sozialer Unruhen, die düstere Zeit von Hungersnöten, Elend, Verfolgung, Massenmorden und Kriegen war vorüber, auch wenn sie nur eine Generation zurücklag. War man nicht von Haus aus melancholisch veranlagt, war man nicht am Mief, an der tristen Enge der postfaschistischen Ständegesellschaft zerbrochen, war man zudem männlich, gesund, heterosexuell und hatte keinen „ungünstigen“ Migrationshintergrund irgendwo in der Türkei, in Jugoslawien oder gar weiter weg, verhieß die Zukunft, ein aufregendes Abenteuer zu werden. Im Vergleich zu heute lebte die überwiegende Mehrheit der ­Bevölkerung noch sehr bescheiden – es war viel Luft nach oben, und gewisse Ansprüche waren leichter zu befriedigen. Ein Interrail-Ticket war eine tolle Sache, und das konnte man sich bald einmal leisten.

Umweltprobleme, saurer Regen und Ozonloch sollten bald in aller Munde sein

Alles sollte besser, höher, schneller werden – so jedenfalls stellte man es sich damals als junger Mensch vor, auch wenn die Realität längst nicht mehr verheißungsvoll war, der Erdölschock das Wirtschaftswachstum beendet hatte, soziale, kulturelle und gesellschaftliche Probleme samt Generationenkonflikten kaum mehr zu kaschieren waren. In Afrika fielen regelmäßig ein paar Millionen Menschen Dürren und Hungerkatastrophen zum Opfer. Aber das war weit weg. Umweltprobleme, saurer Regen und Ozonloch sollten bald in aller Munde sein. Man sprach darüber, doch war das mehr „Fashion“ als „Fear“. Als Jugendlicher blieb man aus einer Mischung aus Trägheit und Tradition optimistisch. Kaum jemand hatte wirklich Angst vor der Zukunft.

Der Geographie- und Turnlehrer warnte uns, seine Schülerinnen und Schüler, im Jahre 1979 vor dem, was kommen würde – vor Armut, sozialen Unruhen, Kriegen und Umweltkatastrophen. Die Kinder waren eher belustigt als beunruhigt. Einer meiner Mitschüler meinte, Hitler habe Österreichs Zukunft gesichert, indem er Autobahnen gebaute habe; ein anderer erklärte, der Atomkrieg werde alles vernichten, bevor es zu einer Umweltkatastrophe komme. Wirklich ernst gemeint war beides nicht, aber beides war mehr als nur ein dummer Scherz …

Seit fast dreißig Jahren werde ich regelmäßig in Schulen eingeladen – ich lese Jugendlichen aus meinen Büchern vor, leite Schreibwerkstätten und führe allein oder mit Kolleginnen und Kollegen Projekte durch, in Rahmen derer ich mit jungen Leuten über ihre Lebenswelten, über Migration, Identität, Fremdheitserfahrungen, den Nahostkonflikt, Rassismus oder Religion rede. Dabei bekommen die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, sich einem Thema in spielerischer Form kreativ anzunähern. Als ich selbst in ihrem Alter war, gab es im schulischen Bereich niemanden, der sich in dieser Weise um mich gekümmert hätte – mit ein Grund, warum mir die Arbeit mit Jugendlichen besonders wichtig ist.

Wenn ich meine eigenen Erfahrungen mit jenen der heutigen Jugendlichen vergleiche, scheint mir der größte Unterschied zwischen damals und heute der zu sein, dass mein Fremdheitsgefühl absolut war, während das der heutigen Schülerinnen und Schüler in Österreich relativ ist. In meinem Wiener Gymnasium war ich lange Zeit der einzige Ausländer und in meiner Klasse bis zur Matura das einzige Gastarbeiterkind sowie der Einzige, der keinen christlichen Hintergrund hatte und dessen Muttersprache nicht Deutsch war. Auch dann, wenn ich mich mit anderen gut verstand und sogar Freundschaften schloss, war ich nicht nur anders, ich war – so empfand ich es jedenfalls – für Gleichaltrige wie Erwachsene gleichermaßen das Sinnbild des „Anderen“, so wie es für mich stets selbstverständlich war, dass die Einheimischen meine Ängste und Nöte nicht verstehen, meine Erfahrungen nicht kennen und meine Sorgen nicht teilen würden. Ich hingegen kannte mein Umfeld besser, als dieses mich jemals kennenlernen wollte. Das verschaffte mir eine gewisse Sicherheit, auch wenn es mich einsam machte.

„In einer Klasse, in der die meisten Migrationshintergrund haben, ist Anderssein oft die einzige unhinterfragbare Gemeinsamkeit.“

In den meisten Schulklassen, die ich heute besuche, ist alles umgekehrt. In einer Klasse von 20 oder 25 Jugendlichen haben oft nur einer oder zwei keinen Migrationshintergrund und Deutsch als Muttersprache. Eine muslimische Mehrheit ist in einer Wiener, Salzburger oder Linzer Schule keine Seltenheit. Wenn serbische, somalische, afghanische, syrische, albanische oder ukrainische Kinder und Jugendliche miteinander eine Klassengemeinschaft bilden, ist Anderssein oft die einzige unhinterfragbare Gemeinsamkeit. Sie finden trotzdem eine gemeinsame Sprache, auch wenn diese nur selten Hochdeutsch ist, hängen miteinander ab, hören dieselbe Musik und schauen dieselben TikTok-Videos. Kulturelle Unterschiede, Missverständnisse, Unwissen über die Vorstellungen und den Erfahrungshintergrund anderer sind dabei trotzdem nicht nur die Regel, sondern inzwischen so „normal“, dass man das Ertragen der damit verbundenen Irritation fast schon als typisch für eine österreichische Leitkultur bezeichnen könnte.

Oft erfahren die Jugendlichen und ihre Lehrkräfte erst im Zuge der Workshops und der damit einhergehenden intensiven Gespräche, was andere in der Klasse wissen oder wie sie über gewisse Themen denken und urteilen. Was mich oft verblüfft, ist die Selbstverständlichkeit, mit der heute viele junge Menschen über ihr Anderssein reden. Mir selbst wäre es mit fünfzehn peinlich, ja ungehörig erschienen, anderen zu erklären, wie ich die Welt sah, was mich ängstigte oder bewegte. Doch die Jugend von heute ist nur scheinbar offenherziger als ihre Eltern oder Großeltern. Hinter Floskeln und scheinbar coolen Phrasen wird bald der Wunsch nach Zuneigung und Nähe spürbar. Hier hat sich über die Generationen kaum etwas verändert. Man teilt weniger mit, als man sagt, Auslassungen sind oft lauter als Worte.

Schlimmer als der „Staberl“

„Ich bin von einem alten Mann im Bus als Scheißausländer beschimpft worden“, erzählt ein Jugendlicher und lacht. „Ich soll aus Österreich verschwinden, hat er mir gesagt. Ich bin dann einfach ausgestiegen …“ An der Art, wie er spricht, an seinem Gesichtsausdruck und der Körpersprache erkenne ich, dass noch mehr passiert ist …  Irgendwann wird er hoffentlich auch darüber reden können.

            In meiner Jugend gab es in Österreich zwei Fernsehkanäle und ein paar bundesweite Tageszeitungen. Man mag in vielen Fragen unterschiedlicher Meinung gewesen sein, aber man konnte zumindest voraussetzen, dass (fast) alle dieselben Nachrichten gesehen hatten und über ein politisches Ereignis, das in aller Munde war, Bescheid wussten. Dies ist längst nicht der Fall.

Heute wäre es leicht, sich über alles, was in der Welt passiert, zu informieren. Wer sich bemüht, wird fast jede Information nachprüfen, Fake-News erkennen und dabei mit unterschiedlichen Menschen auf der ganzen Welt kommunizieren können. Das zur Verfügung stehende Angebot ist schier unendlich. Die Konsequenzen sind aber, dass die Mehrheit, und dabei besonders junge Menschen, noch unwissender ist als zuvor. Man setzt sich zwar bereitwillig, ja suchtgefährdet der Informationsflut aus, hat aber nicht gelernt, kritisch damit umzugehen. Man meidet Qualitätsmedien, sondern vertraut auf die Algorithmen sozialer Netzwerke wie TikTok, die einem frei Haus jene „Nachrichten“ liefern, welche die eigenen Emotionen und Vorteile noch besser und raffinierter verstärken als es einst populistische Kolumnen in Tageszeitungen à la „Staberl“ je vermochten.

Die Jugendlichen von heute schauen meist pessimistischer in die Zukunft als junge Leute vor dreißig oder vierzig Jahren. Kriege, Terror und Katastrophen sind näher an Mitteleuropa herangerückt, und die Klimakrise ist eine große Herausforderung. Das Grundvertrauen in die Welt, das Kinder und Jugendliche haben sollten, kommt ihnen schon in frühen Jahren abhanden. In der Zukunft wartet nicht das Abenteuer, sondern womöglich die Apokalypse. Filme und Serien mit Weltuntergangsszenarien erfreuen sich heute nicht nur zufällig so großer Beliebtheit.

Dabei sind wir als Gesellschaft wohlhabender als je zuvor, wir leben länger und gesünder und haben beruflich wie privat viel mehr Möglichkeiten als früher.  

Jugendliche erkennen dies aber oftmals nicht, weil die moderne Welt nicht als Chance, sondern als Überforderung erlebt wird. Das Nebeneinander verschiedener Zugänge bewirkt bei manchen eine auf Toleranz und Einsicht beruhende Lebenseinstellung, bei den meisten führt es aber eher zur Abstumpfung. In einer Welt, in der es längst keine Klarheit mehr, keine Fakten und auch keine Grundsätze gibt, deren Allgemeingültigkeit von niemandem in Frage gestellt wird, existiert konsequenterweise auch keine eindeutige moralische Verantwortung einzelner. Wer will, findet im Netz und anderswo „Beweise“ dafür, dass das Massaker vom 7. Oktober 2023 nie stattgefunden hat, dass die Erde flach, die Klimakrise eine linksgrüne Erfindung ist und Europa „umgevolkt“ wird.

Eine Minderheit wird aktiv

Der Schrecken ungefilterter Bilder und Darstellungen verstärkt zudem die Vorstellung, dass alles, was passieren kann, auch wirklich passieren wird. Früher lebte man in einer Welt, in der es noch viele Tabus gab und es zudem üblich war wegzuschauen, während man heute dazu verleitet wird, überall hinzuschauen, bis die Augen so schmerzen, dass man nichts mehr sehen kann und sich die Welt zeichnet, wie sie einem gefällt.  

Es gibt Teenager, die in sehr jungen Jahren schon zynisch sind, andere richten sich in einer scheinbar heilen Parallelwelt ein. Eine aktive Minderheit ist politisch engagiert. Eine immer größer werdende Zahl junger Menschen findet jedoch Trost und Sicherheit in der Religion. Jugendliche mit Migrationshintergrund in Großstädten sind dabei tendenziell religiöser als Einheimische auf dem Land – in meiner Jugend wäre dies eine höchst bizarre Zukunftsvision gewesen … Wenn mich in den letzten Jahren etwas in meinen Gesprächen mit Jugendlichen überrascht hat, dann ist es die Selbstverständlichkeit, mit der sie auf reaktionäre Denkmuster zurückgreifen, die sie mit Verweis auf ihren Glauben begründen. Dies gilt sowohl für Christen als auch für Muslime. Ihre Weltbilder mögen im Detail unterschiedlich sein, bei den wesentlichen Lebensfragen hingegen – bei ihren konservativen Vorstellungen zu Gesellschaft und Familie, zu Geschlecht, Gender oder Homosexualität – sind sie aber weitgehend ident. Offen rassistische Äußerungen höre ich von jungen Menschen selten; Homo- und Transphobie scheinen aber heute leider „salonfähiger“ zu sein als noch vor zehn oder zwanzig Jahren.

Es gibt Jugendliche, die zwar bereit sind, das meiste zu hinterfragen, was sie im Internet finden oder durch Erwachsene vermittelt bekommen, aber sie wissen genau, was Gott will, und was er von ihnen erwartet. Als ich kürzlich in einer Schulklasse darauf hinwies, dass es ja ebenfalls Gott war, der nicht nur Männer und Frauen, sondern auch Transgenderpersonen erschaffen habe, erklärte ein Vierzehnjähriger, dass es neben Gott auch den Teufel gebe. „Gott hat uns den freien Willen gegeben, den Versuchungen des Teufels zu widerstehen“, meinte er. „Wir müssen das biologische Geschlecht, das Gott uns von Geburt an gegeben hat, akzeptieren. Das ist SEIN Wille!“

Der anmaßenden Komplexität, mit der sich die Welt präsentiert, begegnen Jugendliche auch mit einer eigenen Logik. „Nur Männer und Frauen können miteinander Kinder bekommen“, erklärte mir eine Vierzehnjährige. „Keineswegs aber Männer und Männer, oder Frauen und Frauen. Welchen Sinn sollte also Sexualität von Menschen des gleichen Geschlechts haben? Das kann ja nur widernatürlich sein.“

„Unser Prediger in der Moschee sagt, dass Homosexualität eine Sünde ist“, verkündet eine Sechzehnjährige. „Und er muss es doch wissen! Er hat studiert, er ist ein weiser Mann. Er wird uns doch nicht belügen!“ Diese Aussage berührt mich. So abgeklärt, altklug und desillusioniert sie auch sein mögen, möchten viele Jugendliche doch nichts lieber, als gutgläubige Kinder sein zu dürfen.

Was mir an jungen Menschen – sei es im beruflichen oder privaten Umfeld – im besonderen Maße auffällt, ist ihre Ambivalenz. Sie fordern Chancengleichheit, vertrauen aber oftmals überkommenen Hierarchien und Autoritäten. Gebildete junge Musliminnen verstehen sich als Feministinnen, tragen aber Kopftuch, „weil das der Tradition“ entspricht. Jugendliche und junge Erwachsene präsentieren sich eloquent, erwachsen und selbstbewusst, sind aber in Wirklichkeit sehr unsicher, empfindlich und haben eine äußerst niedrige Frustrationstoleranz.

Konservativ in Zeiten der Krise

Bedenkt man, dass wir heute viel eher als in früheren Epochen in der Lage wären, die Welt zu einem menschenwürdigeren Ort zu machen – Hunger und Krankheiten zu überwinden, die Versorgung mit materiellen und ideellen Gütern sicherzustellen, den Menschen Freizeit und Selbstverwirklichung zu ermöglichen, ja, sogar die richtigen Maßnahmen zu setzen, um die Klimakrise zu überwinden, ist es erschütternd, wieviel Gewalt, Fanatismus, Pessimismus und Verzweiflung es trotzdem weiterhin gibt. Junge Menschen erkennen das, können es nicht erklären und sehen darin entweder Gottes unergründlichen Willen oder ein Werk des Teufels. Sie wollen die Welt radikal verändern und zu einem besseren Ort machen, klammern sich aber gleichzeitig in einer Mischung aus Desorientierung und Hilflosigkeit an alten Strukturen fest. Es scheint, als bleibe die Welt auch in Zeiten globaler Krisen konservativ.

© Vladimir Vertlib

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