Krieg ist einfacher als Frieden


Der wohl bitterste Faktor des Nahostkonflikts ist seine Ähnlichkeit mit einer Zeitschleife. So wie in einigen Filmen die Helden durch magische Zufälle denselben Tag immer wieder erleben müssen, so erleben auch die Menschen im Nahen Osten denselben blutigen Konflikt seit gut hundert Jahren immer wieder aufs Neue.

 15.11.2024 um 13:07, Tageszeitung DIE PRESSE, Wien, Spectrum, Printausgabe vom 16.11.2024, S. I – II

von Vladimir Vertlib

In seinem aufschlussreichen Buch mit dem Titel „1967. Israels zweite Geburt“ beschreibt der israelische Historiker Tom Segev die Situation im Nahen Osten vor, während und nach dem Sechstagekrieg. Im Juni 1967 hatten die israelischen Streitkräfte in einem Blitzkrieg die Armeen von Ägypten, Jordanien und Syrien besiegt, das Westjordanland, die Altstadt von Jerusalem, den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel und die Golanhöhen erobert und damit ein großes, fast ausschließlich von Arabern bewohntes Territorium unter ihre Gewalt gebracht. Der Krieg war für Israel ein Triumph. Auf Euphorie folgte jedoch bald Ernüchterung, weil die Regierung ziemlich ratlos war. Sollte man das eroberte Gebiet annektieren? Sollte man es für Juden zur Besiedlung freigeben oder als besetztes Gebiet verwalten? Sollte man die arabische Bevölkerung vertreiben oder ihr die israelische Staatsbürgerschaft anbieten, um sie als „israelische Araber“ in den jüdischen Staat zu integrieren? Das Angebot, die eroberten Gebiete gegen einen dauerhaften Frieden mit seinen Nachbarn zu tauschen, hatte die Arabische Liga empört abgelehnt. Nach der „Schande“ des nach nur sechs Tagen verlorenen Krieges war damals kein einziger arabischer Staat bereit, das Existenzrecht Israels anzuerkennen und den Waffenstillstand in einen Frieden umzuwandeln.

Die israelische Regierung beriet. Man schlug vor, sämtliche Bewohner des Gazastreifens ins Westjordanland umzusiedeln, um alle Palästinenser in einem Gebiet beisammen zu haben. Es gab sogar den Plan, Israel solle einen Palästinenserstaat gründen. Um wie viel leichter war es doch gewesen, Krieg zu führen, als die Nachkriegszeit zu gestalten! Der alternde Ministerpräsident Levi Eschkol erklärte im Dezember 1967 in einem Gespräch mit zwei Professoren: „Jetzt lege ich meine Karten auf den Tisch. Erstens: Ich weiß nicht, was ich will. Zweitens: Ich würde gern etwas tun!“

Man weiß nicht, wie man die Nachkriegszeit gestalten soll

Das Dilemma der israelischen Regierung heute ist noch größer, die Lage noch schwieriger, die Handlungsweise jedoch vergleichbar. Es gibt erschreckend viele Parallelen: Man weiß nicht, wie man die Nachkriegszeit gestalten soll, ja, man weiß – im Unterschied zu 1967 – nicht einmal, wie man den Krieg gewinnen und die Befreiung der Geiseln erreichen soll, aber man macht ohne Rücksicht auf Verluste weiter wie bisher. Sogar wenn Israel all seine militärischen Ziele umsetzen und die Terrorgruppen Hamas und Hisbollah kampfunfähig machen sollte, was zweifellos notwendig ist, um die Bevölkerung Israels zu schützen, was dann? Ideologien lassen sich durch Raketen nicht besiegen. Neue Terrorgruppen werden entstehen – womöglich noch radikaler als die alten.

Der wohl bitterste Faktor des Nahost-Konflikts ist seine Ähnlichkeit mit einer Zeitschleife. So wie in einigen bekannten Kinofilmen die Helden durch eine Verkettung magischer Zufälle denselben Tag immer und wieder erleben müssen, ohne den sich stets wiederholenden Ereignissen entkommen zu können, so erleben auch die Menschen im Nahen Osten denselben blutigen Konflikt seit gut hundert Jahren immer wieder aufs Neue. Die handelnden Personen treten ab, sterben oder werden ermordet. Andere kommen an ihre Stelle, die Rahmenbedingungen ändern sich, wenn auch nicht prinzipiell, doch die Grundmuster des Konflikts, die Argumente, die Vorurteile, die Wut, die Traumata und die Unversöhnlichkeiten, ja sogar die Stätten des Grauens bleiben dieselben. Die derzeit stattfindenden Militäraktionen, Massaker und Terroranschläge finden meist an denselben Orten statt, wo die Eltern, Großeltern und Urgroßeltern der heutigen Gegner sich schon 2009, 1982, 1973, 1967, 1956, 1948, 1936 oder 1929 bekämpft oder gegenseitig ermordet hatten. Diese Aufzählung ist nur eine Auswahl, also bei weitem nicht vollständig.

So wie heute hatte die „arabische Seite“ in den Jahren 2000, 1967, 1947 oder davor die Chance verpasst, mit der „jüdischen Seite“ Frieden zu schließen, als diese zu Kompromissen bereit war, während die zionistische Bewegung und die meisten israelischen Regierungen dazu tendierten, die vermeintliche Schwäche ihrer Gegner für große, scheinbar spektakuläre „Siege“ zu nutzen, ohne dabei an die Konsequenzen und die Zukunft zu denken. Auf beiden Seiten waren und sind große Teile der Bevölkerung nicht bereit zu akzeptieren, dass die jeweils „andere Seite“ genauso wie man selbst einen sowohl historisch wie auch persönlich begründbaren Anspruch auf das winzig kleine Stückchen Land zwischen Mittelmeer und Jordanfluss hat. Vielmehr gibt man sich seit etwa neunzig Jahren der Illusion hin, die jeweils „Anderen“ vollständig besiegen zu können, und scheitert daran immer und immer wieder. Auch die Argumente und die Rechtfertigungen des eigenen Tuns sind seit neunzig bis hundert Jahren in etwa dieselben. Die einen erlebten die systematische Verdrängung und Vertreibung aus ihrer Heimat – ein kollektives Trauma, das inzwischen identitätsstiftend wirkt und von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die anderen kamen jedoch keineswegs, wie oft behauptet wird, als Kolonisatoren und Bösewichte, sondern als Verfolgte und als Flüchtlinge ins Land – traumatisierte, verängstigte Menschen, die ein kleines Stückchen Land haben wollten, auf dem sie in Sicherheit, unter sich und nach zweitausend Jahren endlich als Mehrheit und nicht mehr als verfolgte und verachtete Minderheit leben wollten. Die Narrative beider „Seiten“ sind, sieht man von den Vorstellungen islamistischer Massenmörder sowie anderer Fanatiker und Psychopathen auf beiden Seiten ab, absolut nachvollziehbar.

Ein guter Freund meiner Cousine, ein in Israel lebender Palästinenser, lamentierte vor einigen Jahren, dass er, dessen Familie seit Generationen in diesem Land zu Hause ist, keine Baugenehmigungen erhält und fragte zurecht, warum seine vertriebenen Verwandten Israel nicht besuchen dürfen, während Menschen jüdischer Herkunft jederzeit zuwandern können und großzügige Unterstützungen vom Staat bekommen. Meine Tante in Aschdod wiederum fragt genauso zurecht, warum sie und ihre Familie seit mehr als fünfzehn Jahren mit Raketen aus dem Gaza-Streifen beschossen werden, obwohl sie, ein jüdischer Flüchtling aus der ehemaligen Sowjetunion, längst kein anderes Heimatland als Israel besitzt und einfach nur in Frieden leben möchte.

Beide Seiten halten den eigenen Opferstatus für bedeutender als jenen der Gegenseite, bagatellisieren oder leugnen die Leidenserfahrung der Anderen und legitimieren die eigenen Maximalforderungen und die von ihnen selbst begangenen Ungerechtigkeiten und Verbrechen aus der Singularität des eigenen Leidens.

Sie wählten die schlechteste Lösung

Das israelische Kabinett im Jahre 1967 bestand größtenteils aus älteren Herrschaften, von denen die meisten Zionisten der ersten Stunde waren, aus Europa stammten und auf Araber wie orientalische Juden gleichermaßen herunterschauten. Sie waren aber auch Visionäre und Idealisten, die sich dem Humanismus verpflichtet fühlten. Trotzdem wählten sie die schlechteste aller Lösungen, indem sie sich weitgehend passiv verhielten und die Dinge einfach geschehen ließ – wohl in der Hoffnung, die Lösung ergebe sich irgendwie von selbst. Das Ergebnis war ein jahrzehntelanges Besatzungsregime ohne klares Ziel und ohne realistisches Ausstiegsszenario und eine radikale jüdische Siedlerbewegung, die sich die passive Regierungspolitik zunutze machte und mit der jüdischen Besiedlung des Westjordanlandes vollendete Tatsachen schuf. Doch auch Israels Gegner waren nicht bereit, die Gunst der Stunde zu nutzen. Für einen dauerhaften Frieden hätten sie die von Israel eroberten Gebiete zurückbekommen und dort einen Palästinenserstaat gründen können. Daran jedoch war niemand von ihnen wirklich interessiert. Wären sie das, hätten sie ja schon vor dem Sechstagekrieg auf dem damals noch von Jordanien und Ägypten kontrollierten Teilen Palästinas und Jerusalems längst einen eigenen Staat für die Bewohner dieser Gebiete erschaffen können.

Jahrzehntelang haben die gemäßigteren Kräfte auf beiden Seiten einen Status Quo verteidigt, mit dem niemand zufrieden war. Vor nachhaltigen Entscheidungen und schmerzvollen Kompromissen schreckten sie jedoch zurück. Bewiesen sie manchmal doch Weitsicht und Mut zum größeren Risiko, scheiterten sie, wurden entmachtet oder ermordet. Der ägyptische Präsident Anwar as-Sadat und der israelische Ministerpräsident Izhak Rabin haben für ihren Mut zum Frieden mit dem Leben bezahlt.

Heute gibt es in der Region keine gemäßigten Kräfte mehr, die stark genug wären, um etwas bewirken könnten. Israel wird von einem Ministerpräsidenten regiert, der eine Verurteilung wegen Korruption fürchten muss und den blutigen Feldzug, den er angeordnet hat, wohl auch deshalb so viele Monate fortführen lässt, um sein Amt und in Folge seine Freiheit nicht zu verlieren. Seine Koalitionspartner sind rechtsradikale Araberhasser. Im Vergleich zu ihnen erscheinen Leute wie Orbán oder Kickl als linksliberale Demokraten. Israels Gegner sind islamistische Terrorgruppen, denen pragmatisches und rationales Denken fremd ist, religiöse Fanatiker, die Massenmorde an Juden, Vergewaltigungen und Entführungen als gottgewollte Siege feiern, alle Muslime auffordern, Juden zu töten, und denen erwiesenermaßen das Wohl der eigenen Bevölkerung völlig egal ist. Hinter ihnen steht der Iran – ein totalitärer Terrorstaat. Insgeheim wissen alle, dass eine Zweistaatenlösung die einzige umsetzbare und moralisch richtige Lösung wäre. Doch von den heutigen politischen Akteuren ist daran niemand interessiert.

Und noch eine Parallele gibt es zwischen damals und heute: Der Antisemitismus in Europa und anderswo bekommt durch den Nahost-Konflikt Auftrieb. Das war in den Jahren nach 1967 so und ist nach dem 7. Oktober 2023 noch offensichtlicher. Was Antisemiten Juden am wenigsten verzeihen können, ist, wenn sie bedroht, verfolgt und ermordet werden. Wenn Juden zu Opfern werden, macht das Antisemiten wütend, wenn sie sich wehren, so wie es Israel 1967 tat und heute wieder tut, macht es sie noch wütender.

Als Kind habe ich selbst zwei Jahre lang in Israel gelebt und war jahrelang israelischer Staatsbürger. Fast alle meine Verwandten, die aus Russland emigriert sind, leben heute in Israel. Das Schicksal dieses Landes wie der gesamten Region liegt mir am Herzen; ich weiß, dass jede Rakete, die auf Israel abgefeuert wird, einen Angehörigen von mir töten könnte; das Leiden der Menschen in Gaza oder im Libanon erlebe ich aber ebenfalls als Tragödie, und je länger ich in der erwähnten Zeitschleife gefangen bin, desto öfter frage ich mich, warum bei diesem Konflikt die politischen Akteure und deren Unterstützer mit unerbittlicher Folgerichtigkeit immer wieder derart törichte Entscheidungen treffen. Warum kam es am 7. Oktober 2023 nach einem ganzen Jahrhundert (sic!) von Krieg und Terror nicht etwa zur allgemeinen Konfliktmüdigkeit, sondern zum allergrößten Massaker an Juden nach dem Holocaust und in Folge dessen zum blutigsten aller Kriege seit Beginn des Konflikts?

In manchen Analysen, die ich gelesen habe, heißt es, allzu vielen Menschen im Nahen Osten fehle es an Empathie für ihrer „Feinde“. Das mag ein wichtiger Aspekt sein, doch eigentlich braucht man keine Empathie, um moralisch richtig zu handeln, sondern in erster Linie Grundsätze und Charakter. Ich muss einen anderen Menschen nicht mögen, ich muss ihn weder verstehen noch Mitgefühl für ihn aufbringen oder mich in ihn hineinversetzen können, um ihn zu achten und sein Lebensrecht anzuerkennen. Es genügt zu wissen, dass er ein Mensch ist.

Andere Analysen rücken den religiösen Fundamentalismus in den Vordergrund. Zweifellos ist dieser heute im Nahost-Konflikt ein wesentlicher Faktor. Doch bei weitem nicht alle Palästinenser teilen die islamistischen Vorstellungen der Hamas, und mit dem religiösen Zionismus und den Endzeitvorstellungen vieler radikaler jüdischer Siedler hat die überwiegende Mehrheit der jüdischen Israelis nichts am Hut.

Ein weiterer Erklärungsansatz ist der Hinweis auf den anhaltenden, in letzter Zeit immer stärker werdenden Antisemitismus. Gewiss: Der Judenhass ist sowohl in christlichen als auch in islamischen Kulturen tief verankert. Wäre Israel kein jüdischer Staat, würde er bestimmt nicht so viel Hass auf sich ziehen. Für das törichte und selbstdestruktive Verhalten eines ganzen Jahrhunderts ist der Antisemitismus aber trotzdem keine hinreichende Erklärung.

Ich selbst glaube, dass ein wichtiger Umstand in der Diskussion rund um die Ursachen für den anhaltenden Nahost-Konflikt vergessen wird: Es ist die Ambivalenz hinter der eigenen Haltung, die den meisten Akteuren und Betroffenen in und außerhalb der Region sehr wohl bewusst ist. Jüdische Menschen, so auch ich, die Israel unterstützen, den Zionismus befürworten und in einem jüdischen Staat weiterhin die einzige Garantie für das eigene Überleben und als Fluchtort vor dem weltweiten Antisemitismus sehen, wissen dennoch, dass dieser Staat auf Kosten eines anderen Volkes erschaffen wurde, dass vielen Menschen Leid zugefügt, dass Palästinenser vertrieben wurden, dass sie ein Besatzungsregime ertragen müssen oder ihre Heimat verloren haben. Und die Kämpfer für ein „freies Palästina“ innerhalb und außerhalb der arabischen Welt wissen insgeheim, dass es kein Akt des „Widerstandes gegen die Besatzung“ ist, Terrorakte zu begehen, unschuldige Menschen massenweise zu töten, zu entführen, Frauen zu vergewaltigen oder den Staat Israel zerstören zu wollen, in dem Juden nun schon seit Generationen zu Hause sind.

Ein unbewusstes Scheiternwollen

Es ist schwer, anderen zu verzeihen, was man ihnen angetan hat; sich selbst verzeiht man das aber auch nicht immer. Gerade die moralische Ambivalenz und vermeintliche Ausweglosigkeit, das Wissen um die Schuld, die das eigene Kollektiv auf sich geladen hat, führen zu Angst, Verstörung und in Folge zu noch mehr Wut und Radikalität. Wahrscheinlich schwingt sogar eine Form der Selbstbestrafung und ein unbewusstes Scheiternwollen in der Tendenz mit, allzu oft gerade den schlechtesten aller möglichen Lösungsansätze zu wählen. So wäre die Akzeptanz der Schuld und des Versagens der eigenen Seite und das demütige Anerkennen der eigenen Unzulänglichkeiten ein erster Schritt zu einem dauerhaften Frieden. In patriarchalen Gesellschaften mit einem ausgeprägten Ehrbegriff, ist dies eine besondere „Herausforderung“. Doch niemand kommt mit sauberen Händen aus einem solchen Konflikt heraus; niemand wird sein Gesicht wahren, an den eigenen Mythen festhalten oder auf die Vergangenheit stolz sein können. Ohne Änderung des Bewusstseins, werden wir aus der Zeitschleife niemals herauskommen. Bis es so weit ist, wird noch viel Zeit vergehen. Wir, die Einsichtigen, die vermeintlich Schwachen, müssen weiterhin laut bleiben – auch dann, wenn uns nur wenige zuhören wollen.

© Vladimir Vertlib

Comments
One Response to “Krieg ist einfacher als Frieden”
  1. Avatar von Anita Anita sagt:

    Ihr Beitrag war für mich äusserst interessant. Ich war immer verwirrt und habe nicht verstanden, warum es diesen Konflikt gibt, der sich nicht und nicht lösen lässt. Jetzt verstehe ich langsam: Er ist fast unlösbar oder zumindest in absehbarer Zeit nicht lösbar.

    Danke dafür

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