Wo bleibt die Empathie?

Von Vladimir Vertlib

Erschienen in: „Illustrierte Neue Welt“, 2/2025, S. 6f.

Am 30. Mai 2025 nahm ich in Wien an einer vom Verband Katholischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller Österreichs organisierten öffentlichen Diskussion mit dem Titel Eine Sprache des Friedens. Drei Schriftsteller, drei Religionen teil. Als „Vertreter des katholischen Christentums“ saß der Journalist und langjährige Redakteur der Wiener Kirchenzeitung DER SONNTAG Stefan Kronthaler am Podium. „Für den Islam“ diskutierte der bekannte deutsche Autor und Psychologe palästinensisch-israelischer Herkunft Ahmad Mansour. Ich selbst wurde als „Vertreter des Judentums“ eingeladen. Dass ich zwar Jude, aber nicht religiös bin und mich zu keinem Zeitpunkt als Repräsentant einer ganzen Religionsgemeinschaft sehen kann, war kein Problem, wie mir die Veranstalter versicherten. Ich solle schlichtweg meine persönliche Meinung kundtun. In der Diskussion und dem anschließenden Publikumsgespräch ging es dann auch nicht primär um religionsspezifische Fragen. Einzig Stefan Kronthaler versuchte, sich dem Thema auf ernsthafte Weise von einer theologischen Seite anzunähern, als er auf die Bergpredigt hinwies, in der es heißt: Selig sind die Friedensstifter. Außerdem erzählte er, wie sehr sich manche Päpste für den Frieden und das Ende von Kriegen eingesetzt hatten. Er sprach davon und von biblischen Stoffen, auf die man sich in der Friedensarbeit berufen könne.

Ahmad Mansour fragte nach einer stimmigen und differenzierten Definition von Frieden und stellte die Frage, ob man Frieden auch tatsächlich mit allen schließen könne. Es dürfe keinen Frieden um jeden Preis geben, meinte er sinngemäß. Er sprach außerdem davon, wie wenig manche Menschen Interesse an ihren Mitmenschen anderer Herkunft und Kultur und anderen Glaubens hätten. Doch Unterschiede müsse man aushalten können. Das Ertragenkönnen anderer Religionen sei unerlässlich.

Ich selbst erzählte in knappen Worten von meinen Erfahrungen als Migrant in mehreren Ländern, berichtete, wie sehr mich meine jüdische Herkunft und die Erfahrungen des Fremdseins geprägt haben, sprach von den Workshops in Schulen, die ich im Rahmen eines Projekt zur Extremismusprävention leite, und den positiven Erfahrungen mit Jugendlichen, die ich und unser Team machen, wenn wir Teenagern einfühlsam und mit Respekt begegnen – dann könne man auch über kontroversielle Themen wie zum Beispiel den Nahost-Konflikt und den Krieg in Gaza auf Augenhöhe und unter gegenseitigem Respekt diskutieren.

Ahmad Mansour, dessen Arbeitsschwerpunkte Salafismus und Antisemitismus sind, steht aufgrund seines Engagements gegen den Islamismus unter ständigem Polizeischutz. Was den im israelischen Tira nordöstlich von Tel Aviv geborenen und heute in Berlin lebenden Mansour und mich verbindet, ist unser Engagement in der Arbeit mit Jugendlichen. Dazu gehören unter anderem Mansours Arbeit als Gruppenleiter des Heroes-Projekts in Berlin-Neukölln, das sich an Jugendliche aus patriarchalen, traditionalistischen Milieus wendet und das Ziel hat, Vorstellungen wie Gleichberechtigung der Geschlechter und Demokratie zu fördern, sowie Workshops im Rahmen von MIND-prevention, einer Initiative zur Demokratieförderung und Extremismusprävention.

Was mich während der öffentlichen Diskussion in Wien besonders beeindruckt und nachdenklich gestimmt hat, war Ahmad Mansours Bericht darüber, wie radikal sich seine Arbeit mit Jugendlichen nach dem 7. Oktober 2023 verändert hat. Sein Ziel sei es, Jugendlichen ein Forum zu bieten, eine Möglichkeit, sich mitzuteilen und andere kennenzulernen. Früher sei man einander im Rahmen von Treffen und Workshops schnell nähergekommen, habe Stuhlkreise gebildet, sei sofort miteinander per Du gewesen, habe fünf Minuten gebraucht, um eine Atmosphäre des Vertrauens und gegenseitigen Respekts aufzubauen. Nach dem 7. Oktober 2023 brauche man, um denselben Grad an Nähe zu erreichen, oftmals Wochen! Das sei keine Übertreibung, betonte Ahmad Mansour.

Die öffentliche Diskussion war eine spannende, abendfüllende Veranstaltung. Den Inhalt im Detail wiederzugeben, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, so dass ich mich nur auf ein paar grundsätzliche Punkte beschränken möchte. Vor allem möchte ich darauf eingehen, welche Emotionen und Überlegungen Ahmad Mansours Bericht über den großen Bruch, der nach dem 7. Oktober 2023 erfolgt ist, bei mir ausgelöst hat …

Je länger die Diskussion dauerte, desto stärker rückte ein Begriff in den Vordergrund, der auch angesichts der Konflikte und der Polarisierung, die wir zurzeit weltweit erleben, ein Schlüsselbegriff sein sollte: Empathie.

Fehlende Empathie ist natürlich nicht oder in nur in seltenen Fällen die Ursache für Konflikte – das sind unterschiedliche Ideologien, zu denen auch Religionen gehören, reale Interessen, Missverständnisse, Machtansprüche, historische und kulturelle Prägungen und vor allem Emotionen. Fehlende oder mangelnde Empathie trägt meiner Ansicht nach allerdings wesentlich dazu bei, dass sich so viele Menschen aktiv oder zumindest passiv-affirmativ an Konflikten beteiligen, diese dadurch verschärften und deren Beendigung sowie mögliche Kompromisse erschweren.

Die Grundvoraussetzung, um Konflikte nachhaltig zu beenden, anstatt nur kurze Atempausen oder brüchige Waffenstillstände auszuhandeln, ist die Fähigkeit, sich in die Lebenswelt, das Denken, die Gefühle und Verletzung der „anderen Seite“ hineinversetzen zu können. Empathie bedeutet allerdings weder Zustimmung noch Zuneigung, jedenfalls nicht notwendigerweise; man muss „den Anderen“ nicht mögen, um ihn zu verstehen. Doch das Aufbringen von Verständnis erleichtert die Fähigkeit zum Kompromiss, ja, wahrscheinlich geht es ohne dem gar nicht. Die Grundvoraussetzung, um Verständnis aufzubringen, ist Wissen. Dazu gehört nicht nur die Kenntnis bestimmter Fakten (in Zeiten von Fake-News ist das allein schon eine Herausforderung), sondern auch jene fremder „Narrative“ – der kollektiven, identitätsstiftenden, oftmals tendenziösen Erzählungen über bestimmte historische Schlüsselereignisse, historische Begebenheiten, die oft auch für einen selbst von entscheidender Bedeutung sind, nur dass man sie anders bewertet, weil man ein eigenes, oft völlig anderes „Narrativ“ besitzt. Diese Kenntnisse sowie die Fähigkeit zum Nachdenken über fremde Narrative fehlen heute vielen, zu vielen Menschen, und zwar nicht, weil sie sich nicht erkundigen könnten, sondern weil sie es nicht wissen wollen. Besonders schwierig und auch gefährlich wird es, wenn es sich bei den besagten Narrativen um Gründungsmythen handelt, ohne die das eigene, nicht nur das kollektive, sondern auch das individuelle Selbstverständnis in Frage gestellt wäre. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Entstehung des Staates Israel im Jahre 1948 und der israelische Unabhängigkeitskrieg, ein freudiges Ereignis für Juden, für Palästinenser – und für die meisten Araber und Muslime, die sich mit ihnen identifizieren – jedoch die Nakba, die Katastrophe, eine der schlimmsten, demütigenden Erlebnisse ihrer neueren Geschichte.

Nun verlangt niemand, dass die Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge sich über die Gründung des Staates Israel freuen sowie niemand von jüdischen Israelis und Juden auf der ganzen Welt verlangt, dass sie die Errichtung einer jüdischen Heimstatt und eines jüdischen Staates als Katastrophe ansehen. Es ist normal, wenn Menschen primär an die eigenen Interessen und die eigene Sicherheit denken. Was man aber sehr wohl einfordern kann, ist die Bereitschaft, sich mit den Beweggründen, den Erlebnissen und den Emotionen des Anderen zu beschäftigen, um zu verstehen, warum er auch dann kein Bösewicht ist, wenn er bestimmte Dinge völlig anders sieht oder anders erlebt hat. In der arabischen, ja fast in der gesamten islamischen Welt (und dazu gehören auch die Zuwanderercommunities in Europa, USA, Kanada oder Australien) wird diese Form von Empathie verhindert – sowohl seitens der jeweiligen Machthaber oder Autoritätspersonen als auch seitens der Medien, eines großen Teils der Intellektuellen und Kulturschaffenden, der religiösen Führer und des Mainstreams. Israelis (die meist mehr oder weniger direkt mit Juden gleichgesetzt werden) sind in diesen Ländern und Kulturkreisen Bösewichte, die als Kolonialisten nach Palästina gekommen sind, um Menschen zu töten, zu quälen oder zu vertreiben. In arabischen Fernsehserien kommen Israelis fast ausschließlich nur in Form von sadistischen Klischee-Bösewichten, die Nazi-Karikaturen nachempfunden sind, vor. Ausnahmen bestätigen natürlich wie immer die Regel.

Sogar in österreichischen Schulklassen, in denen ich mit meiner Kollegin und meinem Kollegen mit Jugendlichen über den Nahost-Konflikt diskutiere, höre ich Sätze wie: „Die israelische Armee besteht nur aus Mördern“; „Am 7. Oktober 2023 hat es kein Massaker gegeben; die Israelis haben das selbst erfunden und insziniert“; „Israel führt einen Völkermord an den Palästinensern durch“ oder „Der Hamas-Überfall war ein Akt der Selbstverteidigung.“ Dass die Mehrheit der ins britische Mandatsgebiet Palästina zugewanderten Juden Flüchtlinge aus Europa waren, die vor Pogromen in Polen und der Ukraine oder vor den Nazis in Deutschland und später in Österreich und anderswo geflohen waren, dass etwa die Hälfte der jüdischen Israelis wiederum von orientalischen Juden abstammt, die aus ihren meist arabischen Heimatländern vertrieben wurden, und dass hinter Israel keine Kolonialmacht steht, die sie im Zweifelsfall „nach Hause“ holen kann, wissen diese Jugendlichen nicht oder wollen es nicht wahrhaben … In arabischen Ländern weiß man (wie mir mein aus Syrien stammender Freund und Kollege Jad Turjman einst erzählt hatte) noch weniger – wenn man in Syrien aufgewachsen ist und dort die Schule besucht hat, weiß man nichts über den Holocaust, hat den Namen Anne Frank noch nie gehört, hat von jüdischer oder israelischer Geschichte und meist nicht einmal von der Geschichte der Juden im eigenen Land irgendeine Ahnung.

Jene, die bereit sind, mehr zu erfahren, die bereit sind, sich vorzustellen, was es bedeutet hatte, als mittelloser, traumatisierter, bis dahin überall bedrohter und gejagter jüdischer Flüchtling, dessen Familie vielleicht ermordet und dessen Heim zerstört wurde, nach Palästina zu kommen, um dann zu erleben, wie befreiend und befriedigend es sein kann, nach zweitausend Jahren Demütigung und Verfolgung einen eigenen Staat zu haben, werden vielleicht eine etwas andere Perspektive auf „den bösen Anderen“ entwickeln. Ob das möglich ist? Man muss viele Widerstände überwinden, doch gerade Jugendliche sind für solche Rollenspiele zugänglich. Man muss ihnen nur einen entsprechenden Rahmen schaffen, in dem sie sich sicher fühlen und entfalten können.

Auf der anderen Seite kann man sowohl von jüdischen Jugendlichen wie Erwachsenen verlangen, dass sie sich vorstellen, wie sich ein Palästinenser fühlt, der aus seinem Haus, seinem Dorf und seiner Region, wo seine Vorfahren seit Generationen gelebt hatten, vertrieben wird, der erleben muss, wie sein Eigentum konfisziert, sein Heimatort dem Erdboden gleichgemacht und ihm selbst und seinen Nachkommen sogar der Besuch dieses Ortes verboten wird, während Juden aus der ganzen Welt nach Israel einwandern und sich dort eine neue Heimstätte schaffen können. Dabei ist es egal, wer an diesem politischen Desaster die größere Schuld trägt – die israelische Führung, palästinensische Funktionäre oder arabische „Bruderländer“, die jahrzehntelang jeglichen Kompromiss mit Israel abgelehnt hatten, während sie ihre palästinensischen Brüder und Schwestern in Flüchtlingslager gesteckt und wie Menschen zweiter Klasse behandelt haben. Das macht das Trauma für die Betroffenen oft noch schlimmer.

Als ich als Kind in Israel gelebt hatte, war die offizielle Version der Geschichte noch jene, die meisten Palästinenser seien 1948 geflüchtet, weil arabische Führer sie zur Flucht aufgefordert hatten. Israel hätte sie gebeten zu bleiben. Inzwischen leugnet niemand, dass viele Menschen von jüdischen Freischärlern und später von der israelischen Armee direkt vertrieben, dass manche auch ermordet wurden, vor allem aber, dass die Vertriebenen nach Kriegsende nicht mehr zurückkehren durften und ihr Vermögen niemals zurückerhielten.

Ist es möglich Empathie einzufordern? Ja. Können Berichte, Geschichten, Rollenspiele und wechselseitiges Kennenlernen helfen? Gewiss. Kann man über den 7. Oktober 2023 und den Gaza-Krieg differenziert reden und dabei Empathie und Verständnis für die „Gegenseite“ aufbringen? Ich habe selbst mit Jugendlichen die Erfahrung gemacht, dass das zumindest bei einigen funktioniert. Kann das daneben gehen? Ja, auf jeden Fall. Man muss sogar davon ausgehen, dass Empathieversuche immer wieder scheitern werden. Das darf aber nie ein Hindernisgrund sein, es stets von Neuem zu versuchen. Letztlich gibt einem der Erfolg recht. Man kann anderen Menschen Wege aufzeigen und Türen öffnen, es liegt aber an ihnen selbst, ob sie bereit sind, diese Wege zu gehen und Schwellen zu überschreiten. Bei Jugendlichen ist die Erfolgsquote jedenfalls höher als bei Erwachsenen.

Während der Podiums- und Publikumsdiskussion in Wien haben wir weder ausführlich über die Gründung des Staates Israel noch über die Nakba gesprochen. Den Gaza-Krieg erwähnten wir nur am Rande. Trotzdem fiel mir sofort das von mir oben skizzierte Beispiel ein, als die „fehlende Empathie“ zur Sprache kam, und der Gedanke ließ mich nach der Diskussion nicht mehr los. Worüber wir sprachen, was wir beanstandeten und kritisierten, war das in unserer Gesellschaft vorherrschende Nebeneinander statt einem Miteinander der Religionen. Rasch waren wir uns einig darüber, wie wenig die Angehörigen der drei großen monotheistischen Religionen übereinander wissen. Auch die Tatsache, dass der Religionsunterricht in den Schulen nach der jeweiligen Zugehörigkeit der Kinder und Jugendlichen getrennt ist, wurde beanstandet. Zielführender wäre es, den Schülerinnen und Schülern gemeinsam in religionsübergreifenden Fächern Kenntnisse über die verschiedenen Glaubensrichtungen zu lehren, so dass sie mehr übereinander erfahren und vielleicht schon früh in einen Diskurs miteinander eintreten können.

Die Kenntnisse über das Judentum und das Christentum sind in muslimischen Communities oft sehr gering. Unter Christen und Juden ist das Wissen über den jeweils anderen in vielen Fällen aber ebenfalls mangelhaft. Mir fiel dazu sofort eine Geschichte ein, die ich während der Diskussion erzählte: Vor fünfzehn Jahren traf ich einen Bekannten, einen jungen israelischen Lyriker, den ich bei einem literarischen Festival in Österreich kennengelernt hatte, und seine Frau in Jerusalem. Es war gerade Pessach, das in diesem Jahr mit dem katholischen und dem orthodoxen Ostern zusammenfiel. Entsprechend zahlreich waren die Besucher der Stadt und der heiligen Stätten. Ich wunderte mich sehr, als mich der israelische Kollege und seine Frau fragten, ob ich ihnen vielleicht erklären könne, was Ostern überhaupt bedeutet. „Ihr habt jahrelang in Jerusalem gelebt und wisst nicht, was Ostern ist?“, fragte ich erstaunt. „Nein“, sagten sie. „Habt ihr denn in der Schule nichts darüber gelernt?“, wollte ich wissen. Auch das verneinten sie. Das hätte mich eigentlich nicht überraschen sollen, wenn ich an meine eigenen Erfahrungen in einer israelischen Schule in den 1970er Jahren zurückdachte. Dort wurde im Mathematikunterricht das Pluszeichen als umgedrehtes T-Symbol geschrieben, um kein Kreuzzeichen verwenden zu müssen. Als ich eines Tages versehentlich ein klassisches Pluszeichen an die Tafel schrieb, schrie die ganze Klasse so entsetzt auf, als befürchteten diese Kinder, dass sie Jesus höchstpersönlich sogleich von dieser Tafel anspringen würde. Heute frage ich mich allerdings, ob die Kinder damals überhaupt wussten, dass dem Kreuzzeichen eine Kreuzigung zugrunde lag …

Man könnte, ja man sollte davon ausgehen, dass ein langjähriger Bewohner Jerusalems, einer Stadt, die sowohl für Juden als auch für Christen und Muslime heilig ist, zumindest über die Grundzüge aller drei Religionen Bescheid weiß. Wenn das aber nicht einmal auf einen weltoffenen, politisch links stehenden Lyriker und Lehrer zutrifft, was soll man denn noch von anderen Menschen erwarten? Kann man davon ausgehen, dass heute, eineinhalb Jahrzehnte später, in denen Smartphones und die sozialen Netzwerke einen weltweiten Siegeszug angetreten haben und im Nahen Osten einige weitere Kriege geführt und entsetzliche Massaker, die vor fünfzehn Jahren niemand für möglich gehalten hatte, stattgefunden haben, die Lage besser geworden ist? Sicher nicht. Soziale Netzwerke verstärken die Polarisierung und zwingen die Benützer dieser Medien, das eigene Niveau zu senken, um in der eigenen „Bubble“ verstanden zu werden und Anerkennung durch Likes und unterstützende Kommentare zu bekommen. Kriege und Massaker haben zu allen Zeiten Verletzungen, Angst, Wut, Traumata, Verzweiflung und Rachegefühle erschaffen. Die moderne Informationsgesellschaft potenziert diese negativen Gefühle und bringt dadurch die Menschen noch weiter voneinander weg. Wer denkt dann noch an Empathie oder gar Respekt für den Anderen? In solchen Zeiten ist schon viel gewonnen, wenn man den Feind zumindest noch als Mensch und nicht als Tier oder als Abschaum sieht. Waffen vernichten Menschen physisch, das Internet zerstört ihre Seelen.

Wo bleibt in solchen Zeiten noch Raum für die „Sprache des Friedens“, über die wir an jenem schönen Abend in Wien diskutiert hatten? In einem geschützten Umfeld mit Gleichgesinnten, in dem einer der Teilnehmer trotzdem von bewaffneten Polizisten geschützt werden musste, weil er permanent und überall gefährdet ist? Auf Friedensdemos, auf denen jeder zweite herausgebrüllte Slogan Menschen nur noch wütender und aggressiver macht? Oder bei Schulveranstaltungen, auf denen mir Teenager mitteilen, dass das Sterben in den Kriegszonen sowieso weitergeht, egal, was wir tun oder worüber wir reden?

Ein freundlicher älterer Herr aus dem Publikum erklärte am erwähnten Wiener Diskussionsabend, Krieg sei „ein Teil der Schöpfung Gottes“. Gott habe die Menschen so erschaffen, dass sie in regelmäßigen Abständen Krieg gegeneinander führen müssen. Warum Gott uns so etwas antun musste, habe ich nicht wirklich verstanden. In diesem Punkt blieb der ältere, sehr kultiviert wirkende Herr eher vage.

Ich habe widersprochen, denn ich sehe den Krieg nicht als einen Teil von Gottes Schöpfungswerk an. Ich sehe in Kriegen keinerlei höhere Notwendigkeit oder Bedeutung. Gewiss: Angegriffene Staaten haben das Recht sich zu verteidigen und die Pflicht, die eigene Bevölkerung zu schützen, aber ich kann darin keinerlei theologische Bedeutung erkennen. Ich bin im übrigen auch nicht der Ansicht, dass Schmerz und Leid einen höheren Wert haben, dass sie Menschen veredeln, oder dass Menschen an leidvollen Erfahrungen „wachsen“ können. Die Empörung vieler zumindest latent antisemitischer Zeitgenossen über die Regierung Netanjahu, über seine rechtsradikalen Koalitionspartner oder das Vorgehen der israelischen Armee im Gaza-Streifen wird immer öfter von Sätzen wie „Die Juden haben nichts aus ihrer eigenen Geschichte gelernt“ oder „Wenn man selbst verfolgt wurde, müsste man eigentlich wissen, wie das ist“ begleitet, so als wäre Auschwitz eine Erziehungsanstalt gewesen und als hätte die Erfahrung der Schoa sämtliche Juden der Welt zu besseren Menschen machen müssen. Als sei ein Opferstatus mit bestimmten Privilegien verbunden, diese aber wiederum an klar definierte Benimm-Regeln geknüpft. In Sätzen wie den oben zitierten schwingen meist viel Häme und Spott und Befriedigung mit. Aber Juden sind also auch nicht anders! Sie sind ganz normale Menschen. Das waren sie immer schon.

Dass der Pessimismus gepaart mit Sarkasmus gerade sehr zeitgeistig und längst im Mainstream angekommen ist, war auch während der Diskussion zum Thema Eine Sprache des Friedens spürbar. Ich aber habe in meinen nicht ganz sechzig Lebensjahren schon so viele unglaubliche Dinge erlebt, die kurz davor noch alle für völlig unmöglich gehalten hatten (der Zusammenbruch des Ostblocks war für mich z.B. ein einschneidendes Erlebnis), dass ich schon viel zu sehr Realist bin, um noch Pessimist zu sein. Vielmehr glaube ich an die Macht der Empathie und darauf, dass es eine Sprache des Friedens tatsächlich gibt. Ich sehe weder Kriege noch Massaker, Genozide oder ethnische Säuberungen als Teil eines Schöpfungswerk. Sehr wohl gehören aber der freie menschliche Wille sowie unsere schier unglaublichen Veränderungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, unsere Lern- und Entwicklungsfähigkeit zu dem erwähnten Schöpfungswerk. Wir leben nicht in der besten aller möglichen Welten, aber wir haben – allen entsetzlichen Dingen, die tagtäglich passieren, zum Trotz – das Potenzial, die Welt zumindest etwas besser zu machen, als sie ist.

© Vladimir Vertlib

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