Ohne den Staat Israel wäre für Juden alles schlimmer

Die Teilhabe an dem, was zu mir gehört – die europäische Kultur und Geschichte, Sprache und Mentalität -, können mir weder die Identitären noch die Pro-Palästina-Demonstrierenden, weder Rechte noch Linke, weder zugewanderte Antisemiten noch ignorante Antizionisten wegnehmen.

Von Vladimir Vertlib

„Die Presse“, Wien, „Spectrum“, 13.12.2025, S. I und II

Zwei Jahre lang habe ich darauf gewartet, habe jeden Tag gehofft, dass das Sterben in Gaza und in Israel aufhört und die von der Hamas festgehaltenen Geiseln freikommen. Seit dem 10. Oktober 2025 ist ein Friedensplan in Kraft, wird ein Waffenstillstand weitgehend eingehalten, sind die noch lebenden Geiseln wieder bei ihren Angehörigen zu Hause. Zeit, Bilanz zu ziehen? Hier ein Versuch – auf eigene Gefahr …

Auffallend ist, dass für manche Menschen das Kriegsende viel zu rasch gekommen ist. Einige Tage nach dem 10. Oktober fanden in Spanien noch mehrere „Pro-Palästina“-Demos statt, die durch Ausschreitungen begleitet wurden. Auf diesen Kundgebungen wurde ein „Ende des Genozids“ in Gaza, das Ende der Kampfhandlungen (sic!) und ein Palästinenserstaat „from the river to the sea“, also die Zerstörung Israels, gefordert. Manchen Aktivistinnen und Aktivisten passt die Realität nun einmal nicht ins Konzept, am wenigsten dann, wenn ein Teil ihrer Forderungen plötzlich tatsächlich erfüllt wird. Was bleibt dann noch von der eigenen Wichtigkeit? Wie soll man da den „bösen jüdischen Kolonialstaat“ bekämpfen? Wäre es zudem nicht schade gewesen, die eben erst so schön gefertigten Plakate in den Müll zu werfen?

Gleichermaßen auffallend ist aber auch, wie rasch der Nahost-Konflikt wieder aus den Medien verschwindet. Was gestern noch die „Breaking News“ waren, ist heute unter „ferner liefen“ zu finden. Berichten Fernseh- und Radiosender oder Zeitungen etwa noch regelmäßig darüber, wie es den Menschen im Gaza-Streifen unter der neuerlichen Herrschaft der Hamas geht? Hört man in unseren Mainstream-Medien, wie die überlebenden israelischen Geiseln mit ihren Traumata umgehen, wie sie ins Alltagsleben zurückfinden oder was sie als Geiseln der Hamas erlebt haben? Sowohl das Mitgefühl als auch die Empörung schwinden, sobald die Bilder nicht mehr „spannend“ genug sind, auch dann, wenn das Leid lange noch kein Ende hat.

Stattdessen rücken die Massaker im Sudan auf einmal ins Bewusstsein von Medienproduzenten und politisch Interessierten, wenn auch bei weitem nicht in dem Ausmaß, wie im Falle des Gaza-Kriegs. Nach einem Workshop für Jugendliche, den ich mit meiner Kollegin an einer Wiener Schule im November geleitet hatte, teilte uns eine Lehrkraft mit, ihre Schülerinnen und Schüler würde gerne mehr über die Zustände im Sudan und die Ursachen des Bürgerkriegs erfahren. Bis vor kurzem hat das Thema niemanden interessiert, obwohl der Krieg und die humanitäre Katastrophe im Sudan schon seit Jahren andauern.

Und doch wird auch nach dem 10. Oktober 2025 nichts mehr so sein, wie es vor dem 7. Oktober 2023 gewesen ist. Waren zuvor Antisemitismus und Israelhass in unserer Gesellschaft stets als Flüstern im Hintergrund präsent, wurden sie zu lauten, oftmals wütenden Aus- und Zurufen während des Gaza-Krieges, so sind sie jetzt – um bei diesem Bild zu bleiben – wieder in den Hintergrund gerückt, allerdings nicht als Flüstern, sondern als stets deutlich hörbares, insistierendes Murmeln, das nicht mehr zu verdrängen ist. Vor kurzem bezeichnete mich jemand – wieder einmal – als Verbrecher und Völkermordleugner. Der Anlass für diese Beleidigung war mein öffentlich geäußertes Bekenntnis zum Zionismus und zum Existenzrecht Israels als jüdischer Staat. Dass ich mich oftmals als Gegner des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu und seiner rechtsradikalen Regierung deklariert und nicht nur den letzten Gaza-Krieg, sondern auch die vorangegangenen oftmals kritisiert hatte, hat dabei keine Rolle gespielt. Wörter wie „Jude“, „Zionismus“ oder „Israel“ genügen schon, um bei vielen Menschen heftige Gefühlsregungen auszulösen. Das Interesse am Gaza-Streifen mag geringer geworden sein, der als Antizionismus getarnte Antisemitismus ist jedoch geblieben, und es spricht nichts dafür, dass er in absehbarer Zeit wieder auf das Vorkriegsniveau sinken würde.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr gelange ich zur Überzeugung, dass die Terrorgruppe Hamas diesen Krieg gewonnen hat. Militärisch wurde sie zwar besiegt, doch ihr Ziel, Israel zu destabilisieren, zu traumatisieren, zu radikalisieren, international zu desavouieren und zu isolieren, hat sie erreicht. Wurde die Hamas zudem vor dem 7. Oktober 2023 gemeinhin als brutale Terrorgruppe wahrgenommen, so wird sie heute nicht nur in arabischen Ländern, sondern auch von vielen „engagierten“ Menschen im Westen als Widerstandsgruppe angesehen, deren Methoden zwar fragwürdig, deren Ziele aber legitim seien. So hat ein brutales Massaker an Frauen und Kindern samt Folter, Vergewaltigung und die Entführung hunderter von Menschen letztlich das Ansehen der Täter verbessert. Die Hamas hat dem Antisemitismus weltweit einen neuen Schwung verliehen und ein modisches Kleid verpasst. Heute ist es in vielen Kreisen nicht nur cool „Zionisten“ zu hassen, weil sie ja „kleine Kinder im Gaza-Streifen ermordet haben“, sondern eine Grundvoraussetzung dafür, um akzeptiert zu werden und dazuzugehören.

Auf einer Tagung zum Thema „Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023“ in Stuttgart, an der ich im November dieses Jahres teilgenommen hatte, erzählte die linke, feministische deutsche Journalistin Veronika Kracher, wie Menschen, die sich – wie sie selbst – gegen Antisemitismus stellen, schnell ins Fadenkreuz antiisraelischer Aktivistinnen und Aktivisten geraten. In einem Artikel für die deutsche Zeitschrift Belltower News beschreibt sie, wie sich die oftmals aus der linken politischen Ecke kommende Wut gegen Netanjahu und seine Regierung, gegen Israel und den Zionismus, auch gegen antisemitismuskritische Linke richtet. „Oft bleibt es auch nicht bei empörten Kommentaren […]“, schreibt sie, „sondern mündet in konkreten Gewaltaufrufen oder tätlichen Handlungen.“ Antisemitismuskritische Linke verlieren dabei in vielen Fällen ihre politische Heimat, ihr berufliches Umfeld und ihren Freundeskreis.

Im Internet, auf der Straße und an den Unis habe in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023 ein neues Hasssymbol Einzug gehalten, schreibt der Journalist Nikolas Lelle ebenfalls in den Belltower News – ein auf der Spitze stehendes rotes Dreieck. „Damit hat die Hamas an jenem schrecklichen Tag im Herbst 2023 ihre Ziele markiert und zur Elimination freigegeben“, berichtet Lelle. „Im Internet kursieren Videos in der Ego-Shooter-Ästhetik aus Computerspielen, die israelische Ziele zeigen, die mit solch einem roten Dreieck versehen sind. Jetzt wird es auch in Deutschland als Feindmarkierung genutzt. Eine offene Drohung.“ Bezeichnend ist, dass sich diese Drohung nicht nur gegen Jüdinnen und Juden oder gar nur gegen Menschen aus Israel richtet, sondern gegen all jene, die Antisemitismus bekämpfen oder sich nicht klar „antizionistisch“ positionieren. So wurden, laut Lelle, beispielsweise ein Berliner Nachtclub und eine linke Kneipe mit roten Dreiecken markiert, weil sich dort angeblich Personen treffen, die als Feinde gesehen werden.

Ein gleichermaßen erschreckendes wie auch höchst bizarres Beispiel: Die bekannte französisch-israelische Soziologin Eva Illouz setzt sich für die Rechte von Palästinenserinnen und Palästinensern ein, weswegen ihr im Frühjahr 2025 der kurz zuvor verliehene Israel-Preis durch den israelischen Bildungsminister Yoav Kisch wieder entzogen wurde. Doch dieselbe Eva Illouz, die sich bei der israelischen Regierung so unbeliebt gemacht hatte, wurde im Oktober 2025 von der Erasmus-Universität Rotterdam von einem Vortrag ausgeladen, weil sie an der Hebräischen Universität von Jerusalem lehrt. Dies empfanden die Verantwortlichen der Erasmus-Universität als „unbehaglich“ … Wer eine klare, humanistischen Haltung einnimmt, wird also in Zeiten des Lagerdenkens unbehaglich und somit zum allgemeinen Feind. Dass gerade Erasmus von Rotterdams Hauptwerk Lob der Torheit heißt, erscheint in diesem Zusammenhang in vielerlei Hinsicht sehr stimmig zu sein.

Die Frage der Zugehörigkeit bleibt aktuell wie eh und je, ja sie bekommt in einer zunehmend zersplitterten Welt mit ihren schwer durchschaubaren, widersprüchlichen und allzu komplexen Wirklichkeiten eine besondere Wichtigkeit. Auch wenn man nicht genau weiß, wer man selbst ist und was man eigentlich will, möchte man unbedingt irgendwo dazugehören. Ein großes Problem stellt dabei die Tatsache dar, dass es längst keinen „Kanon“ des Wissens gibt, auf den man in unserer Gesellschaft zurückgreifen kann, aber auch kein Regelwerk, das alle als selbstverständlich und verbindlich ansehen. Die oftmals beschworenen Werte und Verhaltensweisen, die man Flüchtlingen und Zuwanderern beibringen sollte, bestehen auch für viele Einheimische nur auf dem Papier, wenn man denn überhaupt eine Ahnung davon hat. Wenn man aber nichts voraussetzen kann, kann man auch nichts erwarten. Menschen bezeichnen sich als „Antizionisten“, die noch nie etwas von Theodor Herzl gehört haben und – was noch schlimmer ist – nicht einmal auf die Idee kommen, sich zu informieren. Pro-palästinensische Aktivistinnen und Aktivisten stellen die „Nakhba“, die Flucht und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung im Zuge des israelischen Unabhängigkeitskriegs in den Jahren 1947-1949, auf dieselbe Stufe wie den Holocaust. Dass Vertreibung, so ungerecht und furchtbar sie auch sein mag, nicht dasselbe ist wie ein geplanter Massenmord, dass im Zuge des erwähnten Krieges auch Juden aus den von arabischen Armeen eroberten Gebieten Palästinas vertrieben wurden und darüber hinaus Hunderttausende Juden gezwungen wurden, ihre Heimatländer im Nahen Osten zu verlassen, wird dabei bewusst verschwiegen. Die judenfeindliche Propaganda fällt auf fruchtbaren Boden, weil es dem Zeitgeist entspricht, das zu glauben, was man glauben will, und sich nicht zu informieren, gerade weil es heutzutage so leicht wäre, an Informationen zu kommen.

Heute fühle ich mich freier

In letzter Zeit werde ich oft gefragt, was sich für mich nach dem 7. Oktober 2023 und dem letzten Gaza-Krieg verändert hat. Wäre ich sarkastisch (und manchmal bin ich das), so würde ich darauf antworten, dass ich mich heute freier fühle, freier, aber keineswegs besser, weil ich die Reste von Illusionen, die ich einst hatte, verloren habe, freier, aber nicht befreit. Es ist mir klar geworden, dass ich jene Form von Zugehörigkeit in meiner Heimat Europa, die ich erhofft und angestrebt hatte, niemals erreichen werde, weil man in mir unter widrigen Umständen und im Zweifelsfall letztlich doch nur den Juden, den Fremden, den Anderen, sehen wird. Gewiss wird mich nur eine Minderheit auf diese Weise wahrnehmen wollen, aber leider eine, die stets groß genug bleibt, dass ich sie nie übersehen, ignorieren und vergessen werde können. Die Umstände aber sind widrig – der Wohlstand sinkt, die Ängste werden größer, die Wut steigt. Die „Gutmenschen“ von vorgestern schwingen heute Palästinafahnen, nachdem manche von ihnen schon als Putin-Versteher und Impfgegner nach alternativen Wahrheiten Ausschau gehalten hatten. Das aber gibt mir letztlich die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, ohne Rücksicht darauf nehmen zu müssen, was andere von mir denken. Im Zweifelsfall wird es immer Leute geben, die meine Taten so oder so zu meinen Ungunsten auslegen. Deshalb bin ich in letzter Konsequenz keinen äußeren Zwängen, sondern nur meinem eigenen Gewissen verantwortlich.

Welche Konsequenz ergibt sich aus alledem für mich, und was könnte ich jenen empfehlen, die Ähnliches wie ich erlebt haben und erleben?

Bei der oben erwähnten Stuttgarter Tagung wurde eine jüdische Interviewpartnerin aus Deutschland, Anfang dreißig, zitiert, die über den Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023 gesagt hatte: „Das ist nicht normal […], das ist aber so und das weiß jeder. […] Das kennen wir, aber ich hatte es noch nie so krass mit jeder Faser meines Körpers gespürt, dass ich nicht sicher bin […] Als Jude ist man nirgends sicher, das habe ich jetzt verstanden.“

Ich selbst verstand das schon früher; ich wusste aber seit langem und weiß auch heute, dass ohne die Existenz des Staates Israel für uns Juden alles noch schlimmer wäre. Gäbe es diesen Staat nicht, dann würden Judenhasser einen anderen Begriff und ein anderes Narrativ dafür verwenden, was heute als „Antizionismus“ bezeichnet wird. Gäbe es Israel nicht, hätte es das Massaker vom 7. Oktober nicht gegeben, wohl aber zahlreiche andere Morde, Massaker und Verbrechen an Juden an Orten, wo es heute keine Juden mehr gibt, weil sie dort gefährdet waren und längst nach Israel geflüchtet sind.

Ich verstehe es gut, wenn jemand Angst hat. Auch ich habe Angst; möchte diese weder verdrängen und verharmlosen. Nichtsdestotrotz trete ich wie schon vor dem 10. Oktober 2025 und vor dem 7. Oktober 2023 weiterhin für eine aufklärerische, radikale Mitteposition ein, für das Einerseits-Andererseits als Programm in Zeiten der Polarisierung, für Komplexität, während um mich herum Simplifizierung als Tugend gilt, für lästiges Nach- und Hinterfragen, wenn viele meiner Mitmenschen eine Aufmerksamkeitsspanne von höchstens dreißig Sekunden aufbringen und keine Kommentare lesen, die länger als zwei Zeilen lang sind, für das Unbequeme, Widersprüchliche, Ambivalente, Nachdenkliche, wenn für andere der Wohlfühlfaktor wichtiger ist als alles andere. Zugegebenermaßen bringe ich nicht immer den Mut, die Geistesgegenwart und die Kraft auf, das besagte Programm umzusetzen, aber ich gebe nicht auf. Das Schöne ist, dass es – so mein Eindruck – immer mehr Menschen gibt, die ähnlich empfinden und ähnlich agieren wollen wie ich.

Alte Wunden wurden aufgerissen

Und es gibt noch etwas Positives, was mir nach Kriegsende und auch schon in den letzten zwei Jahren aufgefallen ist: Mein eigenes Verhältnis zu Europa, zu den Ländern, in denen ich gelebt habe und denen ich mich weiterhin verbunden fühle, ist keineswegs schlechter geworden. Manche Illusionen, die ich zuvor hatte, habe ich heute nicht mehr, alte Wunden wurden aufgerissen, neue sind hinzugekommen. Mein Gefühl der Zugehörigkeit mag schwächer geworden sein, doch die Teilhabe an dem, was zu mir gehört und dessen Bestandteil ich selbst bin – die europäische Kultur und Geschichte, Sprache, Mentalität, Erfahrung – können mir weder die sogenannten Identitären noch die Pro-Palästina-Demonstrierenden, weder rechte noch linke, weder altbackene noch moderne oder zugewanderte Antisemiten und schon gar nicht irgendwelche ignoranten Antizionisten wegnehmen.

© Vladimir Vertlib

VLADIMIR VERTLIB wurde 1966 in Leningrad, UdSSR, geboren. 1971 emigrierte seine Familie nach Israel, dann nach Italien, nach Österreich, in die Niederlande, wieder nach Israel, nach Österreich und in die USA, bevor sie sich 1981 endgültig in Österreich niederließ. Vladimir Vertlib studierte Volkswirtschaftslehre und lebt sein 1993 als Schriftsteller in Wien und Salzburg. Zuletzt sind von ihm der Roman „Die Heimreise“ im Residenz Verlag und der Essayband „Juden sind auch nicht anders“ im Verlag Edition Tandem erschienen.

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