Die Nacht der Ankunft

Hunderte Flüchtlinge haben wir durch die Zelte hindurch begleitet, nur einige bleiben uns im Gedächtnis. Viele von ihnen werden sich aber gut an uns erinnern, ist das doch ein existenzieller Moment ihres Lebens. Der „Auslass“ der Flüchtlinge in Salzburg: Impressionen einer Krise.
23.12.2015 | 18:08 | Von Vladimir Vertlib (Die Presse)

Salzburg, November 2015, „Camp Grenze“: Der Grenzübertritt der Flüchtlinge nach Deutschland, in Österreich „Auslass“ genannt, erfolgt über eine schmale Fußgänger- und Fahrradbrücke, welche über die Saalach ins bayerische Freilassing führt. Seit einigen Wochen ist diese Brücke abgesperrt und ausschließlich für Flüchtlinge reserviert. Um „ausgelassen“ zu werden, müssen sie einige Zeit (manchmal auch einen Tag oder eine Nacht) warten, bevor sie sich in eine Schlange einreihen dürfen. Aus dieser Schlange werden sie in kleinen Gruppen in ein Doppelzelt vorgelassen, das wiederum in vier oder fünf Bereiche unterteilt wird. Für den Einlass ins Doppelzelt und den „Auslass“ auf die Brücke sind wir, die freiwilligen Helfer, zuständig. Etwa viermal pro Stunde meldet sich ein deutscher Polizist per Funk. Rund um die Uhr. Schichtdienste auf beiden Seiten – ohne Unterbrechung.
„Deutschland an Österreich, bitte kommen!“ – „Österreich an Deutschland“, antwortet jener von uns, der gerade das Funkgerät hat. „Ihr könnt die nächste Gruppe rüberschicken. Maximal 25 Personen.“ – „Österreich an Deutschland. Verstanden. Wir schicken euch 26 rüber. Wir haben eine Gruppe mit 26.“ – „Deutschland an Österreich. Gut. Passt.“ Manchmal ist die Sprache verräterisch. „Ihr könnt das nächste Paket schicken“, heißt es zum Beispiel. – „Ist unterwegs.“
Wir öffnen den Zeltausgang und lassen die Gruppe aus dem vorderen Zeltbereich hinaus. Drei Meter weiter ist ein Gitterzaun mit improvisiertem Tor, dahinter ein Rad- und Fußweg, der am Fluss entlangführt, dann ein weiterer Gitterzaun mit Tor. „Build a line, build a line, please! Wait!“ Noch einmal abzählen. 24, 25, 26. Tor auf.
Währenddessen rückt die zweite Gruppe in den vorderen Bereich des Zeltes vor, die Gruppen dahinter rücken nach, ein Kollege lässt eine neue Gruppe aus der Warteschlange ins Zelt, von hinten wird die Schlange aufgefüllt, während in regelmäßigen Abständen Busse Flüchtlinge aus dem Camp in einer ehemaligen Autobahnmeisterei, wo sie „bebändert“ wurden, hierher, an die Grenze, bringen. Die Papierbänder, die den Flüchtlingen um den rechten Unterarm gewickelt werden, haben verschiedene Farben, Buchstaben und Zeichenkombinationen. Sie regeln die Reihenfolge, nach der Flüchtlinge über die Grenze gehen dürfen. Diese Bänder müssen wir ihnen vor dem Auslass unbedingt abschneiden.
Nachtschicht. Drei freiwillige Helfer, darunter ich. Die Menschen in der Schlange frieren. Am frühen Morgen wird die Temperatur um den Gefrierpunkt liegen. Das Bundesheer teilt graue Armeedecken aus, die wir im Zelt wieder einsammeln.
Die Flüchtlinge sind müde, viele krank. Sie husten, atmen schwer, zittern, manche haben Fieber, Schweiß auf der Stirn. Ich sehe ein Baby, etwa drei Wochen alt, in eine Decke gewickelt. Kranken, Kindern und alten Menschen lassen wir die Decken, auch wenn ihr Fußweg ans andere Flussufer keine hundert Meter lang ist. Das Baby schreit kein einziges Mal – weder in der Schlange draußen noch im ersten Zelt oder bei den Nachrückungen ins zweite Zelt. „Schau nach, ob das ein Baby oder ein Bündel ist“, bittet mich der Kollege. Haben wir das Baby doch tatsächlich übersehen. Oder haben wir es schon mitgezählt und wieder vergessen? 25 Personen dürfen mit dieser Gruppe die Brücke überqueren.
„Stay with your group, please!“
Nachrücken. „No, not here. Sit down! Stay with your group, please.“ Ein junger Flüchtling erklärt mir, dass er es leid sei, zu warten. Seit Wochen werde er von Absperrung zu Absperrung geschoben und müsse ständig Anweisungen befolgen. Er solle noch ein bisschen Geduld haben, er sei fast am Ziel, erkläre ich ihm. Dass es auf deutscher Seite genauso weitergeht, dass dort das Warten erst beginnt, sage ich ihm nicht.
Das Bundesheer sorgt für Unterkunft und Verpflegung, hilft bei der Zusammenstellung der Gruppen und übernimmt Sicherungsaufgaben. Für Bebänderung und Auslass ist es nicht zuständig. Dies darf weder die Polizei noch die Armee durchführen, weil die Stadt Salzburg darauf besteht, dass dies durch Freiwillige erfolgt. Auf keinen Fall soll die Bebänderung wie eine „offizielle Registrierung“ aussehen, auf dass die deutschen Behörden nicht plötzlich auf die Idee kommen, die Flüchtlinge zurückzuschicken, damit sie ihre Asylanträge hier bei uns stellen. Und kein Soldat öffnet jemals die Pforte zur Brücke, die nach Deutschland führt.
Um etwa zehn nach vier kündigt die deutsche Polizei eine halbstündige Pause an. Nach einigem Geschiebe und Gezerre herrscht plötzlich gespenstische Ruhe im gesamten Doppelzelt, unterbrochen nur von regelmäßigem Husten, Schnäuzen, gelegentlichem Seufzen. Ein alter Mann trägt einen weißen Mundschutz. Er wirkt sehr krank. Drei junge Erwachsene stützen ihn, erklären ihm etwas im Flüsterton, reden ihm gut zu. Kinder sitzen still neben ihren Eltern oder auf deren Schoß. Manche starren uns mit weit aufgerissenen Augen an. Ein junger Mann hat sich auf den Boden gelegt und schläft. Eine zusammengerollte Decke dient ihm als Kissen. Andere legen die Köpfe auf die Schulter des Nachbarn, nicken ein, fahren hoch bei jedem Geräusch. Geht es weiter? Wann geht es weiter? Warum geht es nicht weiter?
Wir stehen und warten. Die Flüchtlinge sitzen und warten. Die Menschen draußen in der Schlange stehen, frieren und warten. Die Soldaten erklären ihnen, sie mögen wieder in die Tiefgarage unter dem ehemaligen Zollamtsgebäude gehen, doch sie rühren sich nicht vom Fleck. So knapp vor dem Ziel kehren sie nicht mehr um. Viele von ihnen waren Tausende Kilometer unterwegs. Keinen Meter gehen sie zurück. Ich nehme den Flüchtlingen in den Zelten die Decken ab und teile sie an die Wartenden draußen aus.
Ich gehe in den schmalen Außenbereich zwischen dem Zelt und dem ersten Gitterzaun, um zu rauchen. Eine Straßenlaterne beleuchtet den Zeltausgang, den öffentlichen Weg, die beiden Zäune und die wenigen Meter dahinter, die zur Brücke führen. Die Brücke selbst ist schlecht beleuchtet, genauso wie das andere Ufer – eine Aulandschaft. In den Zelten auf der anderen Flussseite, im deutschen Camp, brennt Licht. Die Dunkelheit und der Nebel haben sie scheinbar in die Ferne gerückt, so als wären sie weit weg und winzig klein und würden einige Meter über der Erde schweben: leuchtende Fenster, Konturen im Zwielicht und rundherum nur Dunkelheit. Wenn die Flüchtlinge in der Nacht über die Brücke gehen, hat man den Eindruck, sie würden, sobald sie den Lichtkegel der Straßenlaterne verlassen haben, im Nichtsverschwinden.
Hinter meinem Rücken höre ich das verzweifelt klingende Husten des alten Mannes, und mir drängt sich zum wiederholten Male die Frage auf, was ich hier eigentlich mache, warum all diese Menschen nicht in Istanbul in den Zug oder in ein Flugzeug steigen, um bequem und ohne Zwischenstopps nach Deutschland zu reisen. Stattdessen bin ich hier und erschaffe Erinnerungen. Hunderte Flüchtlinge haben meine beiden Kollegen und ich in die Zelte hinein, durch die Zelte hindurch und aus den Zelten hinaus begleitet. Nur einige von ihnen bleiben uns im Gedächtnis. Viele von ihnen werden sich allerdings sehr gut an uns erinnern, ist dies doch ein existenzieller Moment ihres Lebens. Später werden sie über diese Nacht berichten, die Nacht, als sie in Deutschland ankamen. Sie werden sich das Datum merken, Schulaufsätze darüber schreiben, Interviews geben, ihren Kindern davon erzählen. Welches Bild wird sie ihr Leben lang begleiten? Ein Lächeln? Eine nette Geste? Ein schroffer Befehl? Der Schokoriegel, den ich einem verletzten Zehnjährigen schenkte, der auf dem Boden lag? Sollten wir das alles nicht mitbedenken? Und wenn wir das mitbedenken, sind wir dann überhaupt noch handlungsfähig?
Ein junger Mann folgt mir ins Freie, um zu rauchen, schaut sich um und sagt: „I love Europe! It’s beautiful!“ Sein Englisch ist ausgezeichnet. Vor dem Krieg habe er in Damaskus Europäische Geschichte studiert. Wir reden über Grenzen und über Flucht. 1945 seien acht Millionen Menschen in Mitteleuropa als Flüchtlinge unterwegs gewesen, erklärt mir der junge Syrer. Ja, ich weiß, sage ich. Vor 1938 hätten Flüchtlinge aus Deutschland die Grenze Richtung Österreich überquert. Während der Nazi-Zeit seien Juden und Regimegegner aus Salzburg geflüchtet. Nach dem Krieg habe es in Salzburg Dutzende Lager für Displaced Persons, darunter viele Juden auf dem Weg nach Palästina und Heimatvertriebene, gegeben. Sie alle hätten es anfangs schwer gehabt. Auch er werde es nicht leicht haben. Ja, ich weiß, sagt er schmunzelnd. Ich schaffe das schon!
„Is that Germany?“, fragt mich ein anderer junger Mann und zeigt mit dem Finger auf die Zelte am anderen Ufer. – „Yes.“ – „Hurra! Finally!“, ruft er und springt vor Freude in die Höhe. „Germany! Germany!“
Deutschland habe den Krieg verloren, aber den Frieden gewonnen, sinniert der angehende Historiker. Nun sei es eines der reichsten Länder der Welt.
„Maximal 20 Personen“
Vier Uhr fünfundvierzig. Ich gehe wieder ins Zelt. Im vordersten Bereich des Zeltes, direkt am Auslass, sitzen zwölf Flüchtlinge, im zweiten Bereich fünfzehn. „Eigentlich könnten wir, da ja die Deutschen immer etwa 25 Flüchtlinge akzeptieren, die beiden ersten Gruppen zusammenlegen“, schlage ich vor. „Dann haben wir eine Gruppe mit 27 Leuten, die wir rüberschicken, nur zwei mehr als ausgemacht, und genau so viele können aus der Kälte ins Zelt nachrücken.“
„Okay“, sagt der Kollege.
„Stand up, please! Move on, go to this part of the tent. Sit down!“ Die Menschen folgen meinen Anweisungen – müde, langsam, ohne Fragen zu stellen. „Deutschland an Österreich!“ Endlich! „Ihr könnt die nächste Gruppe rüberschicken. Maximal 20 Personen. Ich wiederhole: maximal 20 Personen!“ – „Maximal 20 Personen“, wiederholt der Kollege und schaut mich an, als hätte ich Mist gebaut. Er hat recht: Ich habe Mist gebaut!
„Listen, we need 20 people!“, schreit der Kollege. „Only 20 people for this group. The others have to wait.“ Unruhe kommt auf. Die Flüchtlinge reden durcheinander, schauen uns zuerst erstaunt und dann böse an. Afghanen und Syrer reden aufeinander ein und finden keine gemeinsame Sprache. „Are you one family?“ – „Yes?“ – „How many?“ – „Nine.“ – „And you?“ – „Ten.“ – „Okay. You go. The others have to wait.“ Der alte, kranke Mann mit Mundschutz ist verzweifelt, er schimpft, ist den Tränen nahe. Er und seine drei jüngeren Verwandten warten seit 40 Minuten ganz vorne im Zelt. Nun wird ihnen eine Großfamilie vorgezogen, die ursprünglich im zweiten Bereich, also weiter hinten, gesessen war.
Wir zählen die Menschen und kommen auf mehr als 20. „Das ist immer so“, schimpft der Kollege. „Zuerst sagen sie, es sind neun Personen, dann gibt es noch einen Onkel und einen Cousin, und dann sind es plötzlich zwölf oder 13.“ Nach einer weiteren turbulenten Minute stellt der Kollege eine Gruppe aus 16 Flüchtlingen zusammen. „So, dabei bleibt es jetzt“, sagt er und führt sie hinaus. „Nehmen wir doch wenigsten den alten Mann und seine drei Familienangehörigen noch dazu“, bitte ich. „Er ist steinkrank und wartet schon lange. Dann haben wir eine Gruppe mit genau 20!“ Der Kollege nickt. „Come!“ , sage ich zu dem Mann mit dem Mundschutz. „Shukran!“, flüstert er und verschwindet in der Dunkelheit. ■

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 24.12.2015)

© Vladimir Vertlib

„Die Nacht der Ankunft“ ist ein Ausschnitt aus Vladimir Vertlibs Essay „Let’s go Europe!“, in: Uwe Beyer (Hrsg.): „Europa im Wort. Literarische Aufzeichnungen vom Leben in der europäischen Bürgergesellschaft.“ Ca. 300 S., Broschur. Die Anthologie erscheint im April 2016 im Lese-Zeiten Verlag, Heidelberg.

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