Polarisierung
Publiziert in der Zeitschrift „Literatur und Kritik“, Salzburg, Nr. 527, September 2018
In meiner Jugend kannte ich den Ausdruck „Polarisierung“ nicht. Die Verwendung soziologischen Modevokabulars war in den 1980er Jahren noch kein Massenphänomen. Die Gesellschaft war nicht „polarisiert“, sie war gespalten, was zwar dasselbe meint, aber nicht ganz dasselbe ausdrückt; man war nicht „empathisch“, sondern schlichtweg einfühlsam oder mitfühlend; statt zu „reflektieren“, dachte man einfach nach, man „genderte“ nicht, auch dann nicht, wenn man bewusst die weibliche Form verwendete, und war nicht multi- oder gar transkulturell, sondern im besten Falle weltoffen. Der moderne Yuppie, der ein Image sanfter Abgeklärtheit pflegte, der ehemalige Hippie, der gerade die Bequemlichkeiten bürgerlicher Unaufgeregtheit für sich entdeckte, und der kleine Karrierist, der als gelernter Österreicher ein Virtuose darin war, Ecken rechtzeitig zu erkennen, um ihnen bühnenwirksam ausweichen zu können, wussten, was sich gehörte. Sie waren weder fremdenfeindlich noch rassistisch oder gar antisemitisch (jedenfalls nicht nach außen) und doch noch weit von dem entfernt, was man heute als „politisch korrekt“ bezeichnen würde, auch wenn das Binnen-I gerade erfunden worden war und in kürzester Zeit einen rasanten Siegeszug angetreten hatte. Wer damals jung war, studierte und sich als „links“ verstand, war gegen Sozialabbau, gegen die Privatisierung der verstaatlichten Industrie, gegen Waldheim, gegen den NATO-Doppelbeschluss, gegen Maggie Thatcher, Ronald Reagan und den US-Imperialismus, gegen die Atomkraft und gegen Wackersdorf, gegen den alten Nazi-Opa, der behauptete, die Gaskammern seien eine Erfindung der Alliierten, gegen Israel und gegen Juden, die nichts aus der eigenen Geschichte gelernt hätten (also gegen alle Juden, die sich mit dem Staat Israel identifizierten), aber natürlich für die Rechte der Palästinenser, für die Revolution in Nicaragua, für den Aufbau des Sozialismus auf Kuba, für legale Abtreibungen, für Neutralität, Umweltschutz, Frieden, Freude und Nenas neunundneunzig Luftballons, für Feminismus (in der Prioritätenliste noch nicht ganz oben) und – sehr selten, weil immer noch ein Randthema – für die gleichen Rechte von Schwulen und Heterosexuellen (über Lesben redete man damals noch nicht, man ignorierte sie).
Wer sich als „rechts“ verstand, war selbstverständlich für Privatisierungen, unterstützte die NATO, war für Steuersenkungen, gegen Sozialschmarotzer, Faulenzer und Langzeitstudenten, gegen den überbordenden Sozialstaat, der Parasiten förderte, gegen die Sowjetunion, China und alle linken Regime, zu denen man auch die von Sozialdemokraten geführten Regierungen zählte, für Waldheim, denn „wir Österreicher wählen, wen wir wollen“, gegen Abtreibungen und den „Fötus-Holocaust“, für einen Schlussstrich unter die Vergangenheitsdebatte, immerhin lag die NS-Zeit schon mehr als vierzig Jahre zurück, gegen linke Künstler, Intellektuelle und andere „Nestbeschmutzer“ wie Jellinek, Bernhard und Turrini, die das eigene Land im In- und Ausland anschwärzten, gegen weitere Geschwindigkeitsbeschränkungen für Autofahrer und gegen die Anschnallpflicht, gegen zu viele Ausländer, Fremde und Asylbetrüger (ja, schon damals!), gegen langes zotteliges Haar und für den ordentlichen Mittelscheitel, wenn man sich nicht lieber gleich mit Bürstenhaarschnitt präsentieren wollte.
Man hatte nicht nur eine Meinung zu einem bestimmten Thema, sondern übernahm sofort ein ganzes Denkpaket. Wer gegen legale Abtreibungen war, konnte nicht gleichzeitig für eine Industrie im Eigentum des Staates oder für die Fünfunddreißigstundenwoche sein (warum eigentlich nicht?), und wer die Aufrüstung der NATO befürwortete, konnte Reagans Sozialabbau nicht für verfehlt oder seine Unterstützung evangelikaler Prediger nicht für gefährlich halten.
So genügte es, in einer Diskussion ein einziges Reizwort im entsprechenden Kontext in den Raum zu stellen, um die Tür zu einem vollständigen Denkgebäude zu öffnen. Dieses Gebäude war bekannt, es musste von jemandem nicht im Detail dargestellt werden, um von anderen rasch einschlägig und stimmig positioniert zu werden. Angesichts der Komplexität der Welt machte dies – damals nicht anders als heute – einiges einfacher. Und genauso, wie es heute von vielen als schier unmöglich angesehen wird, dass jemand einerseits bestimmte Koranpassagen kritisiert und den Islam als „gefährliche Ideologie“ bezeichnet, gleichzeitig aber für eine liberale Flüchtlingspolitik und eine offene Gesellschaft eintritt, war es damals irritierend, wenn man den real existierenden Sozialismus schärfer kritisierte als den Westen und sich gleichzeitig gegen Fremdenfeindlichkeit engagierte. Und wer heute von dem Islamkritiker Hamad Abdel-Samad begeistert ist, ist meist auch gegen die „Ehe für alle“. Das ist kein Scherz!
Ich selbst war in meiner Jugend als Emigrant aus der Sowjetunion einerseits Antikommunist und Befürworter der NATO-Aufrüstung, unterstützte aber gleichzeitig als „Linker“ Sozialdemokraten und Grüne und stand der Politik der USA in vielen Punkten sehr kritisch gegenüber. Ich unterstützte Israel, solidarisierte mich nicht vorbehaltlos mit dem „Kampf der Palästinenser“ und engagierte mich „dennoch“ gegen die Ausbeutung der Dritten Welt und gegen das Apartheid-Regime in Südafrika. Demzufolge wurde ich von allen kritisiert und galt weder als Linker noch als Rechter, sondern bestenfalls als exzentrischer Sonderling, schlimmstenfalls als jemand, der „nicht alle Tassen im Schrank“ hatte. Das störte mich, aber nicht sehr, war ich doch als Migrant, der eine längere Odyssee hinter sich hatte, ohnehin als Außenseiter aufgewachsen. Es gab andere Dinge, die mich mehr beschäftigten oder irritierten als die mangelnde Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen „Lager“.
Polarisierung ist kein Markenzeichen der Moderne. Spätestens seit dem Zusammenbruch des Feudalsystems und einer „gottgewollten Ordnung“, an die alle geglaubt hatten, war die Gesellschaft mehr oder weniger polarisiert. Im Vergleich zu dem gegenseitigen Hass vergangener Zeiten ist das, was wir heute erleben, allerdings harmlos. Trotz der immer stärker werdenden Tendenz zu verbalen Entgleisungen und apokalyptischen Beschwörungen, glaubt in Wirklichkeit nur eine relativ kleine Minderheit an eine unmittelbar bevorstehende Umvolkung und Islamisierung Europas, an eine geheimnisvolle Verschwörung, die durch Merkels Raute ausgedrückt wird, an die Allmacht von George Soros, an den Beginn einer neuen faschistischen Ära, an Sebastian Kurz als Messias, der alles richtet, oder als Luzifer, der alles vernichtet, oder an eine Wiederholung dessen, was in den 1930er und 1940er Jahren in Europa passiert war. Die Realität hinter den in der Öffentlichkeit heiß diskutierten Themen, präsentiert sich oftmals weder heiß noch kalt, sondern eher lauwarm. Ja, zweifellos gibt es leider Asylwerber, die morden und Frauen vergewaltigen, es gibt Islamisten, Betrüger und Schmarotzer, die sich nie integrieren werden, und Parallelgesellschaften, die es in zwei Generationen sicher immer noch geben wird. Aber heißt das, dass jede Frau, die in Wien, Radstadt, Berlin oder Castrop-Rauxel auf die Straße geht, sich fühlen muss wie in Kabul? Lauert in jedem Park ein olivfarbener Schwerverbrecher mit einem Krummschwert in der Hand? Sicher nicht.
Zweifellos sind das Erstarken von Rechtspopulisten, der Sozialabbau und die mit neoliberalen Zuständen einhergehende Unsicherheit beängstigend. Die Selbstverständlichkeit, mit der rechtsextreme Burschenschafter zu den Zentren der Macht drängen, ist keine Bagatelle, die Erosion der politischen Kultur, der Übergang von Paternalistischem zu Peinlichem, ein Prozess, der seit langem zu beobachten ist, und die Diskriminierung und schleichende Ausgrenzung von Minderheiten keine „linke“ Illusion. Das alles heißt aber noch lange nicht, dass das Ende der Demokratie unmittelbar bevorsteht und die SA alsbald wieder mit ruhig festem Schritt durch die Straßen marschieren wird. Doch Polarisierung führt zu Radikalisierung, Radikalisierung stärkt Zugehörigkeit, Zugehörigkeit entsteht durch Uniformität, und Uniform bedeutet Gleichmaß und rasche Erkennbarkeit.
Formen und Inhalte ändern sich im Laufe der Zeit, Verhaltensmuster und Tendenzen jedoch ähneln sich oft sehr. Jener gesellschaftliche Umbruch, dessen Zeuge ich in meiner Jugend in Österreich geworden war, unterschied sich allerdings fundamental von dem, was wir heute erleben, und ich spreche in diesem Zusammenhang nicht von der Tatsache, dass es damals noch kein Internet und keine sozialen Netzwerke gegeben hatte, die heute ganz wesentlich zur Verstärkung der Polarisierung und zur Verkürzung von Argumentationsketten führen. Vielmehr war die Situation in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in vielerlei Hinsicht klar. Klar war vor allem, welche Seite die richtige und welche die falsche war. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Auch aus der zeitlichen Distanz von 30 Jahren braucht man die damalige Perspektive, dass Wehrmachtssoldaten nicht einfach „nur ihre Pflicht“ getan hatten, sondern an einem verbrecherischen Krieg teilgenommen hatten, nicht zu revidieren. Kein seriöser Historiker bestreitet heute, dass Kurt Waldheim die Verdrängung und Verharmlosung der NS-Zeit verkörperte, welche die Nachkriegszeit geprägt hatte und erst damals, vor 30 Jahren, in sich zusammenbrach. Die ausgehenden Achtzigerjahre mögen eine Zeit der Zwietracht, des Hasses und der Schubladisierungen gewesen sein, doch jener eine, jener größte Konflikt, der die Zeit prägte, der ihr seinen Stempel aufdrückte, war und bleibt eine Metapher für den Kampf zwischen richtig und falsch – nachvollziehbar und zweifelsfrei.
Wie werden die Menschen in 30 Jahren unsere Zeit beurteilen? Wird es für sie genauso zweifelsfrei und offensichtlich sein, was in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre richtig und was falsch war? Das können wir nicht wissen. Was wir inzwischen aber sehr wohl wissen, ist, dass wir, die Zeitgenossen, vor einem Dilemma stehen, wenn wir unsere Gegenwart nüchtern betrachten. Die großen „Denkpakete“ tangieren die Wahrheit nur, und was sie tangiert, ist nicht das, was die eigentlichen Kerne dieser Denkpakete ausmacht. Ob man in der Gastronomie rauchen dürfen soll oder nicht, gehört zum Beispiel gewiss nicht zu den Kernproblemen unserer Zeit.
Zweifellos muss man auf Seiten der Humanität und der Menschenrechte zu stehen. Doch was bedeutet dies praktisch? War es richtig, im Spätsommer 2015 die österreichischen und deutschen Grenzen für Geflüchtete zu öffnen, wäre alles andere unmoralisch und menschenverachtend gewesen, oder bedeutete dies letztlich sowohl eine unzumutbare Mehrbelastung für die Aufnahmeländer als auch einen Betrug an den Geflüchteten selbst, von denen sich viele, die ursprünglich nie vorgehabt hatten, ihre Heimatländer zu verlassen, mit falschen Erwartungen aufmachten, um in Europa die größte Enttäuschung ihres Lebens zu erfahren? Was wäre wirklich passiert, wenn Angela Merkel nicht gesagt hätte „Wir schaffen das!“ und Deutschland sich abgeschottet hätte? Was hätte dies für die Hunderttausenden Menschen bedeutet, die zu diesem Zeitpunkt auf dem Balkan unterwegs waren? Hätten sich in den Monaten danach weniger Menschen auf den Weg gemacht, und wäre das für sie und für uns besser oder schlechter gewesen? Gibt es wirklich einen Unterschied zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, wobei letztere das Abweichen von humanitären Grundsätzen im Einzelfall erlaubt, wenn dies dem großen Ganzen dient? Ist es zulässig, Geflüchtete in Europa oder in libyschen Lagern leiden zu lassen, damit sich weniger Menschen auf den Weg machen und somit insgesamt weniger Menschen leiden (stimmt das überhaupt)? Oder ist eine solche Frage angesichts der Ausbeutung vieler afrikanischer Staaten und der ausbleibenden Entwicklungshilfe von vornherein verfehlt und zynisch? Sind nicht Kapitalismus und Globalisierung die besten Entwicklungshelfer, weil – trotz zahlreicher Kriege und Flüchtlingskrisen – die Armut in der Welt in den letzten Jahrzehnten insgesamt gesunken ist? Führt Nationalismus wirklich immer zu Chauvinismus, und was sind die primären Bezugspunkte für Menschen, die sich nicht als Kosmopoliten betrachten, in einer offenen Gesellschaft? Die Region? Europa? Die Kultur? Aber welche Kultur, was gehört dazu und was nicht? Was ist nationale Identität und wann hört sie auf? Ist es verwerflich in Krisenzeiten in erster Linie an sich selbst und Menschen, die der eigenen Gemeinschaft angehören, zu denken? Und wie weit darf dieser Egoismus gehen, bevor er verbrecherisch wird?
Und was ist mit dem Dauerbrenner, dem Thema aller Themen, zu dem mindestens zwei von drei Österreichern eine dezidierte Meinung haben, auch wenn sie ihre Informationen meist aus sozialen Netzwerken beziehen und im besten Falle vielleicht ein einziges Buch dazu angelesen haben? Ich rede natürlich von „dem“ (sic!) Islam.
Wer schon versucht hat, mit Moslems zu diskutieren, die behaupten, der Islam sei eine „Religion des Friedens“ (nein, ist sie nicht) und Islamophobie sei dasselbe wie der Antisemitismus (nein, ist sie nicht) und somit eine Spielart des Rassismus (manchmal, aber nicht immer), weiß, wie schwierig, in vielen Fällen fruchtlos solche Diskussionen sind. Das weiß auch jeder, der es wagt, Wutbürgern zu widersprechen, die behaupten, der Islam sei eine gefährliche Ideologie (eine 1.400 Jahre alte Religion ist mehr als eine Ideologie, sie bedeutet Geschichte, Kultur und Identität), er sei der Nationalsozialismus von heute (nein, ist er nicht), gehöre nicht nach Europa (er ist schon seit Jahrhunderten in Europa), habe kulturell nichts Eigenständiges hervorgebracht (Unsinn!) und könne, weil der Koran Gottes Wort sei und einzelne Suren zu Gewalt gegen Andersgläubige aufrufen, gar nicht anders als gewalttätig ausgelegt werden (das ist nicht zwingend so, wird aber von Islamisten und Rechtsradikalen gleichermaßen behauptet). Es ist leicht, Islamisten zu verdammen und patriarchale Strukturen in islamischen Zuwanderergesellschaften abzulehnen, es ist leicht, Rassisten und Kulturchauvinisten auszumachen und als das zu bezeichnen, was sie sind. Doch „Mainstream-Moslems“ sind keine Islamisten, und „besorgte Bürger“ sind meist keine Rechtsradikalen oder Nazis. Trotzdem werden sie sich meist als Todfeinde gegenüberstehen und niemals akzeptieren, dass in den Behauptungen der Gegenseite ein Körnchen Wahrheit steckt. Und was noch schlimmer ist: sie werden in den allermeisten Fällen nicht miteinander reden wollen.
Vor dreißig Jahren konnte und musste man gegen Waldheim sein und auch gegen alles, wofür er steht. Heute kann und muss man gegen den Rechtspopulismus auftreten, das ist wichtig, doch noch lange keine Antwort auf die großen Fragen der Zeit. Nachdem nicht immer einwandfrei geklärt ist, was denn nun richtig und was falsch, was tolerierbar und was verwerflich ist, werden jene antihumanistischen Kräfte gestärkt, für die Moral, so wie sie heute vom so genannten „linken Mainstream“ verstanden wird, nichts als Heuchelei, die politische Korrektheit „Gesinnungsterror“ und Schritte zur Modernisierung der Gesellschaft eine totalitäre Anmaßung bedeuten. Gäbe es zu den weiter oben erwähnten Themen wie Asyl, Zuwanderung, Islam oder nationale Identität einen ausgeprägteren gesellschaftlichen Konsens, so wie dieser zum Beispiel bei der Ablehnung der Todesstrafe oder dem Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie längst existiert, hätten die antihumanistischen Kräfte und deren Werkzeug, der Populismus, eine viel geringere Chance, sich auszubreiten. So aber nützen Populisten die gedankliche Uneindeutigkeit in vielen wichtigen Bereichen und die Tendenz vieler Menschen zur Oberflächlichkeit sowie ihre Bereitwilligkeit, sich unhinterfragt Denkklischees in Lagern unterzuordnen, dazu, um eine umfassende reaktionäre Agenda durchzusetzen. Zu dieser gehören bei weitem nicht nur dezidierte Ansichten zu Asyl, Zuwanderung und Islam, sondern auch zum Sozialsystem, Frauenpolitik oder der „Ehe für alle“. Auch die Verharmlosung des NS-Regimes wird wieder salonfähig: ich denke dabei nicht nur an die Aussagen zahlreicher Burschenschafter bei uns in Österreich, sondern beispielsweise an die widerwärtige Behauptung des AfD-Mannes Alexander Gauland, man dürfe auf die deutschen Soldaten beider Weltkriege stolz sein. Warum laufen die Uhren plötzlich zurück? Waren wir mit diesem Thema nicht längst „durch“?
Mögen Ausdrücke wie „Islamfaschisten“, „Genderidiotinnen“ und „Quotzen“ für „Quotenfrauen“ immer noch am Bodensatz sozialer Netzwerke und an Stammtischen anzutreffen sein, so sind die moralische Empörung und leidenschaftliche Zurückweisung, mit denen einer solchen Denkungsart und Diktion oft entgegengetreten wird, nicht dazu angetan, diese alsbald verschwinden zu lassen.
Wie ist dieser Entwicklung zu begegnen? Der geistigen Verarmung und gedanklichen Bequemlichkeit sollte offensiv entgegengetreten werden. Dieser Vorsatz ist bei weitem nicht so naiv, wie er vielleicht klingen mag, denn der Wunsch nach echtem Dialog ist in unserer Gesellschaft stärker, als viele glauben. Dies ist besonders dann zu spüren, wenn scheinbar vorhersehbare Verhaltensweisen durchbrochen werden. Wie dankbar sind doch in manchen Fällen Andersdenkende, sei es bei Streitgesprächen im realen Leben oder in sozialen Netzwerken, wenn ich Ihnen argumentativ entgegenkomme und vielleicht in der einen oder anderen Detailfrage sogar recht gebe. Wie schnell vermag sich dann der Ton eines Gesprächs zu ändern – weg von den üblichen ritualisierten gegenseitigen Vorwürfen und für das eigene Lager typischen Slogans hin zu einem gedanklichen Austausch, der das eine oder andere Mal überraschende, neue Zugänge öffnet.
Seit einige Jahren diskutiere ich intensiv mit Linken wie Rechten, Wutbürgern und Moslems, Menschen aus verschiedenen politischen Lagern und den wenigen, die dazwischen stehen. Viele Gespräche sind mühsam, frustrierend oder fruchtlos, doch machen sie trotzdem Sinn. Letztlich ist genau dieses Aufeinandertreffen verschiedener Gruppen und der Austausch von Meinungen, was uns gesellschaftlich die Chance gibt, Denkpakete und Lager hinter uns zu lassen und am Ende der Auseinandersetzungen eine gemeinsame Grundlage zu finden, um die großen Probleme der Zeit zu beurteilen und zu lösen.
© Vladimir Vertlib