Rede – gehalten im Rahmen der Kundgebung gegen Rassismus und Rechtsextremismus am 8. November 2022 in Wels

Vladimir Vertlib

Rede im Rahmen der Kundgebung gegen Rassismus und Rechtsextremismus anlässlich des 84. Jahrestages der „Reichspogromnacht“, gehalten am 8. November 2022 in Wels für die „Welser Initiative gegen Faschismus – Antifa Wels“

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde!

Der Novemberpogrom, dessen wir heute gedenken und dem im Jahre 1938 zahlreiche  Jüdinnen und Juden zum Opfer fielen – Hunderte wurden ermordet, Zehntausende verhaftet und in Konzentrationslager gesperrt -, wurde in meiner Kindheit und Jugend noch oft – so wie auch einst von den Nazis – Reichskristallnacht genannt. Manchmal sprach man auch einfach nur von „Kristallnacht“, ließ etwas verschämt das untergegangene „Reich“ weg, fand aber nichts dabei, die Splitter und Scherben weiterhin als Kristalle zu bezeichnen, so als wären Zerstörung und in deren Folge auch Raub, Demütigung und Mord etwas Wertvolles und Schönes. Es ist bezeichnend, dass man hierzulande in den postfaschistischen Jahrzehnten wie selbstverständlich und meist unreflektiert eine gleichermaßen zynische wie euphemistische Nazi-Diktion übernahm. Daran sollte man sich erinnern – in einer Zeit, in der zynische Euphemismen nun immer öfter wieder zum Alltag auf der ganzen Welt gehören: So wird zum Beispiel ein Krieg zu einer „Militärischen Spezialoperation“, eine Niederlage zum „taktischen Rückzug“, Rechtsradikale bezeichnen sich als „Wertkonservative“, Neonazis als „Identitäre“, die einen haben nur ihre Pflicht getan, andere nur ein paar SMS verschickt oder dumme Scherze im Internet gemacht; letztlich sind immer die Anderen die Bösen, und fremdenfeindliche Putinversteher*innen präsentieren sich als Verteidiger*innen unserer Neutralität im Namen des Friedens und der Humanität. Man könnte die Liste fortsetzen.

Novemberpogrom! Die Vorgeschichte und die Geschichte dieses Pogroms ist bekannt. Warum gerade er hierzulande zum wichtigsten Gedenktag an den NS-Rassenwahn und die Verfolgung und Ermordung von Juden durch die Nationalsozialisten geworden ist und nicht etwa der Schoah-Gedenktag am 27. Jänner oder ein anderer Tag (Tag der Wannsee-Konferenz, Tag der Einführung der Nürnberger Rassegesetze, etc.) hat gute Gründe: Es war ein offen durchgeführter, gewalttätiger Akt von Staatsterrorismus auf dem Gebiet des damaligen Deutschen Reiches vor den Augen und meist mit Billigung großer Teile der Bevölkerung. Alles andere – von der Ausgrenzung, Entrechtung, bis zu Vertreibung und physischen Vernichtung – fand Schritt für Schritt, schleichend und oftmals im Verborgenen statt. So könnte man meinen. Und doch stimmt das natürlich nicht. All die infamen Aktionen direkter und struktureller Gewalt gegen Jüdinnen und Juden – vom Boykott der Geschäfte über Bücherverbrennungen, Enteignungen, Demütigungen, Ausgrenzung, Vertreibung aus dem öffentlichen Leben, Vertreibung ins Exil, Massenverhaftungen bis zu den pogromartigen Übergriffen in Österreich nach dem sogenannten „Anschluss“ (Stichwort: Die Säuberung von Straßen mit Zahnbürsten, Morde und spontane „Arisierungen“) fanden genauso vor den Augen der Bevölkerungsmehrheit – mit deren Billigung oder mehr oder weniger gleichgültigen Zur-Kenntnisnahme – statt. Der Novemberpogrom war weder ein Höhepunkt noch ein Anfang noch ein Vorspiel zur Schoah, sondern „nur“ eine weitere Eskalation in einem schon seit Jahren laufenden und für hellsichtige und sensible Menschen erkennbaren Prozess. Somit ist dieser Gedenktag zwar nachvollziehbar, wichtig, aber auch ambivalent, weil er indirekt ja auch suggeriert, wirklich schlimm und wirklich sichtbar und erkennbar werde eine verbrecherische Entwicklung erst dann, wenn Gebäude brennen und Fensterscheiben in Brüche gehen. Und das zu einem Zeitpunkt, als „Rassenschande“ längst schon ein Begriff war, auf Parkbänken „Nur für Arier“ zu lesen war und an den Zufahrten zu österreichischen Dörfern und Kleinstädten stolz Schilder mit den Aufschriften „Dieser Ort ist judenrein!“ angebracht wurden.

Vielleicht ist aber dieser Gedenktag gerade deshalb stimmig und heute umso mehr, und zwar eben gerade, weil das, was damals passierte, für viele, die bis dahin nichts sehen und nichts hören wollten, ein solcher Schock war. Es ist eine Mahnung, es überhaupt nicht so weit kommen zu lassen, dass Pogrome und Akte von Staatsterror überhaupt stattfinden können. 1938 war es zu spät, weil so viele Menschen 1933 und auch noch 1934 und 1935 nicht glauben konnten, dass es jemals so weit kommen wird können!

Als man mich gebeten hatte, eine Rede zum heutigen Gedenktag hier in Wels zu halten, habe ich zuerst gezögert und war mir nicht sicher, ob ich zusagen soll. Als Jude hatte ich oftmals Scheu an solchen Veranstaltungen teilzunehmen, weil ich einerseits den Eindruck vermeiden wollte, meine Herkunft sei der primäre Grund, warum ich überhaupt dazu eingeladen wurde, und andererseits, weil ich das Gefühl hatte, die Nachkommen der Täter*innen sollten sich um die Erinnerung, um das Gedenken bemühen und vor allem darum, dass sich Derartiges nicht wiederholt. Ich selbst und die meisten anderen Nachkommen der Opfer brauchen eigentlich keine Gedenkveranstaltungen, um uns zu erinnern; das Trauma ist ohnehin zu stark, als dass wir vergessen; und wenn wir gedenken, hat dies eine andere Form und eine andere Bedeutung.Ich habe schließlich doch zugesagt, hier im Rahmen dieser Gedenkveranstaltung in Wels eine Rede zu halten, weil mich die gesellschaftlichen und politischen Zustände HEUTE derart schockieren und fassungslos machen, dass ich dazu nicht schweigen kann, und weil ich durchaus eine Verbindung und Parallelen zu dem erkennen kann, was DAMALS war und was HEUTE stattfindet, was wir tagtäglich erleben müssen, beobachten und das – ob Kriege in der Ferne oder vor unserer Haustür, Angriffskriege, Faschismus, Entsolidarisierung, Armut, Zynismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus und noch viel mehr als das – bei einigen, nein, bei viel zu vielen, schon jenes ostentative Wegschieben provoziert, jenes „Ich kann’s schon nicht mehr hören“ und „Lass uns von etwa anderes reden“ und, noch öfter und noch bedenklicher: „Wir können ja sowieso nichts dagegen tun“, was letztlich dazu führt, dass man es irgendwann noch öfter hören und darüber reden wird müssen, weil man das, was passiert, dann schon widrigenfalls am eigenen Leibe spürt. Darauf hinzuweisen, zu mahnen, sehe ich als meine Aufgabe an. Das mag zwar nicht sehr originell sein, aber wohl gerade deshalb immer wieder notwendig, auf dass das Offensichtliche nicht vergessen wird.

Und nein, ich werde Ihnen nicht erklären, was Sie tun und lassen und was Sie denken sollen. Viele von Ihnen wissen das ohnehin oder haben sich längst entscheiden, andere vielleicht noch nicht. Was ich Ihnen auf den Weg mitgeben möchte, ist auch kein: „Währet den Anfängen!“ – das sagt alles, aber auch nichts aus, versteht sich von selbst und ist längst abgegriffen. Was ich Ihnen sagen möchte, ist schlichtweg das, was mich selbst bewegt beziehungsweise das, was mich bei vielen meiner Mitmenschen stört – nämlich ein entweder freundlich distanziertes oder ein genervtes oder gar ein aggressives Unpolitisch-Sein. Deshalb sage ich allen, weil mir das ein besonderes Anliegen ist: SEIEN SIE BITTE POLITISCH! DENKEN SIE POLITISCH! HANDELN SIE POLITISCH! Man muss nicht derselben Meinung sein, aber nachzudenken bringt schon sehr viel, und involviert statt gleichgültig zu sein, ist wichtiger als alles andere. Manchen von Ihnen wird das trivial vorkommen. Viele halten sich ohnehin für politische Menschen und brauchen Aufforderungen dieser Art gar nicht. Gewiss. Mag schon sein. Ich frage mich allerdings, ob dies auch auf jene Jugendlichen zutrifft, die sich von den Eltern im SUV zu den „Fridays For Future“-Demos bringen lassen und jedes Jahr ein neues Handy kaufen, während sie andere auffordern, sich einzuschränken, um das Klima zu retten.

Ich frage mich, ob dies für jene gilt, die sich nicht gegen Covid impfen lassen, und jenen, die sie dafür kritisieren, Bilder des Eingangstors des KZ Auschwitz mit hineinkopierter Aufschrift „Impfen macht frei!“ schicken. Ich selbst habe solche Bilder von einigen Leuten erhalten.

Ich frage mich, ob dies für jene gilt, die angesichts des von Putin begonnenen Angriffs- und Vernichtungsfeldzugs auf einer vermeintlich gesetzlich verankerten politischen Neutralität pochen und damit einem faschistischen Regime in die Hände spielen. Und ich frage mich natürlich, ob dies für jene gilt, die die Partei wählen, welche für diese faschistoide, menschenverachtende und pro-Putinsche Haltung steht, und dies nur wenige Jahre nach unglaublichen Affären rund um diese Partei, Affären, die aber heute scheinbar wieder vergessen sind. Ist das nicht eine apolitischen Haltung par excellence?

Ich frage mich, ob dies für jene Jugendlichen gilt, die sich zu Halloween lieber mit der Polizei prügeln, anstatt darüber nachzudenken, woher ihre Wut kommt und was sie ernsthaft und nachhaltig unternehmen könnten, um sich und anderen zu helfen und diese Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Ich frage mich, ob dies für jene gilt, die den Sozialabbau, die gesellschaftliche Polarisierung und Steuererleichterungen für Reiche und Superreiche als scheinbar gottgegeben hinnehmen, in Zuwanderern, Asylsuchenden, sozial Schwachen und den Angehörigen von Minderheiten hingegen ihre Hauptfeinde sehen. Wer profitiert wohl davon?

Ich frage mich oft, warum Menschen nicht nachdenken! Apolitisch zu sein, bedeutet nicht unbedingt, sich für Politik nicht zu interessieren. Es bedeutet, nicht nachdenken zu wollen oder zu können, das Offensichtliche nicht zu sehen, keine Querverbindungen herzustellen – oftmals aus Eigeninteresse, in den meisten Fällen aber schlichtweg aus Bequemlichkeit.

In den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts dachten viele Menschen ebenfalls nicht nach. Vielleicht wollten viele von ihnen niemandem etwas Böses. Sie hatten jüdische Freundinnen und Freunde, sind mit jüdischen Kameraden in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs gelegen und hatten danach mit diesen zusammen geschworen, dass es nie wieder Krieg geben werde. Vielleicht hatten sie 1932 und 1933 Hitler gewählt, weil sie das, was er sagte, für nichts als Wahlkampfrhetorik hielten, weil sie nur das sahen, was sie sehen wollten – die einfachen und schnellen Lösungen in Zeiten von Chaos, wirtschaftlichem Niedergang und einer stets steigenden persönlichen Unsicherheit. Und es folgten auch danach noch Jahre, in denen man bequem unpolitisch sein und wegschauen konnte – bis zum Novemberpogrom im Jahre 1938 und weiter bis zum bitteren Ende für alle, bis schließlich nicht nur die typischen Sündenböcke, sondern alle zu Opfern der eigenen Ignoranz wurden, soweit man nicht ohnehin von Anfang an böse Absichten hatte.

Wer die Parallelen zur heutigen Zeit nicht erkennen kann, ist blind und – apolitisch. Ich wüsche mir viel mehr politisches Denken in den Köpfen meiner Mitmenschen! Ich möchte, dass Menschen nachdenken und sich engagieren. Was ich mir aber vor allem wünsche, ist, dass ich Reden wie diese irgendwann nicht mehr halten werde müssen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

(c) Vladimir Vertlib

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