„Philosophen und Politiker sind einander sehr ähnlich“

Über den ukrainischen Philosophen Serhij Forkosh mit einigen Gedanken zum Begriff „normal“.

Von Vladimir Vertlib

Erschienen in: „ZWISCHENWELT. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands“. Nr. 3-4, 2023, September 2023, S. 6-8

Früher hat man in Österreich über Begriffe wie „Pflicht“ oder „historische Verantwortung“ diskutiert. Das ist lange her. In diesem Sommer entbrannte eine Debatte rund um den von der niederösterreichischen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner etwas unbedacht verwendeten Ausdruck „normal“. Die öffentlichen Reaktionen darauf offenbarten allerdings das Unvermögen, vielleicht auch den mangelnden Willen, sich mit der gesellschaftlich wichtigen Frage von „Normalität“ und den Abweichungen davon konzeptuell auseinander zu setzen, geschweige denn eine Abgrenzung von Begriffen wie „normal“ und „normativ“ vorzunehmen oder zwischen Mythen, Symbolen, Typisierungen und kulturellen Codes zu unterscheiden. Inwieweit basiert die sogenannte „Normalität“ auf ethischen Prinzipen und Grundhaltungen, und wer legt diese fest? Sind Veränderungen des Verständnisses von Normalität ebenfalls „normal“? Mit Hinweisen auf „präfaschistoid“ (was ist eigentlich der Unterschied zu „präfaschistisch“?) oder auf „unsere Leut‘“ im Gegensatz zu Fremden streift man bestenfalls sanft am Thema vorbei und wird dabei nicht einmal der hausbackenen Mikl-Leitner’schen „Normalität“ gerecht. Früher gab es in Österreich zumindest den typischen „Schmäh“, der in Zeiten des Absolutismus und der Gegenreformation entstanden war und einen verschlüsselten Kommentar anbot, wenn Direktheit Gefahr bedeutete. Jahrhundertelang waren hierzulande viele Menschen antiintellektuell, brutal, oftmals menschenverachtend, aber zumindest hatten einige von ihnen Esprit. Doch der Schmäh scheint modernen Menschen in Zeiten permanenter Krisen abhanden zu kommen, und der Esprit verkommt zur eitlen Pose. Das Traurigste an der „Normalitätsdebatte“ war von Anfang an die ironiebefreite Gewichtigkeit, mit der die meisten Akteurinnen und Akteure die eigene Oberflächlichkeit ernst nahmen.

Während der sommerlochverdächtigen Normalitätsdebatte musste ich oft an einen Bekannten, den heute in Wien lebenden ukrainischen Philosophen Serhij Forkosh denken und an ein Interview, das ich mit ihm geführt hatte. Sich mit der Biographie und den Gedanken dieses Intellektuellen auseinander zu setzen, kann inspirierend sein.

Serhij ist in vielerlei Hinsicht konventionell, aber ist er auch normal? Der 39jährige führt eine konventionelle Ehe, hat Frau und Kind, kleidet sich unauffällig, gendert nicht und bemüßigt sich einer konventionellen Diktion – wiewohl stets auf einem etwas höheren Niveau als der Durchschnitt. Aber er kommt aus einem Land, das sich gerade im Krieg befindet, aus einer Region des Landes, die dort als untypischer Rand, als hinterwäldlerische Provinz angesehen wird, und er spricht mit mir vier Stunden lang in einem druckreifen, derart differenzierten Russisch, wie ich es von einem Zeitgenossen noch nie gehört hatte. Dabei ist Russisch gar nicht seine Muttersprache, genauso wenig wie übrigens das Ukrainische …

Bekanntheit erlangte der Professor für Philosophie an der Universität von Kyiv, als er mit einigen seiner Studenten den Unterricht im Fernstudium über Skype oder andere Online-Formate weiterführte. Dies wäre nicht so außergewöhnlich, wenn die Studenten sich nicht gerade an der Front befänden. Um mit ihrem Lehrer philosophische Fragen zu erörtern, müssen sie mit ihren Laptops meist die Schützengräben verlassen und Orte nahe der Front aufsuchen, an denen sie eine Internetverbindung aufbauen können. Danach reden sie über existenzielle Frage – über Leben und Tod, Angst, Hoffnung und Verzweiflung. Dort wo es so leicht ist und selbstverständlich erscheint, das Leben anderer zu beenden oder das eigene zu verlieren, mache es Sinn, über den Wert des Lebens nachzudenken, meint Serhij.

Wenn ich daran denke, was die Menschen in der Ukraine heute, gestern und morgen durchmachen müssen, wenn ich den abnormen Wahnsinn dort und in vielen anderen Regionen der Welt betrachte, frage ich mich, wie es heute jemand irgendwo zwischen Amstetten und Straßhof wagen kann, das Wort „Normalität“ überhaupt in den Mund zu nehmen. War es nicht immer, jederzeit und überall die breite, schweigende Mehrheit der „Normaldenkenden“, die es erst zugelassen hat, dass die Welt so wird, wie sie ist?

Serhij selbst war nicht an der Front. Dem Tod hat er nicht im Krieg, sondern vor sechs Jahren ins Auge geschaut, als er schwer an Krebs erkrankt war und die Ärzte ihn schon aufgegeben hatten. Ob Philosophie hilft, die Tragik und den Aberwitz des Lebens zu verstehen? Gewiss. Doch sollte man Philosophie nicht mit einer Therapie verwechseln. Philosophie ist weder eine Spielart der Psychologie noch ein Trost- oder Besänftigungsmittel. „Wenn du schwach bist“, erklärt Serhij, „wird die Philosophie dich töten. In jedem Fall wirst du noch schwächer werden, wenn du dich tatsächlich mit ihr beschäftigst. Wenn du hingegen stark bist, wird sie dich stärker machen.“

Ein „normaler“ Zugang? Wahrscheinlich schon, wenn man Serhijs Ansichten übernommen hat, dass philosophisches Denken nichts mit formaler Bildung, mit dem Wissen über oder der Wiedergabe von Philosophiegeschichte, mit Konzepten früherer Zeiten oder den Gedanken der großen Denker der Vergangenheit zu tun hat, sondern ein intensives, persönliches Nachdenken über Grundsatzfragen bedeutet. Nachdenken muss zu einer erhellenden Arbeit werden, zur Leidenschaft, in der die Antwort auf eine Frage zu einer alles beherrschenden, unmittelbaren Realität wird, die wichtiger ist als alles andere. Das klingt nach Obsession und kann nicht „normal“ sein. Doch ohne der obsessiven Suche nach Antworten, ohne der Überwindung einer alltäglichen Gedankenroutine, ohne der ständigen Arbeit an den Herausforderungen der Welt, ohne Umwege und falsche Fährten, gäbe es keine Normen, die Normalität erst konstruieren, sondern bestenfalls erweiterte Instinkte.

Serhij Forkosh stammt aus einem Dorf in der Karpatoukraine, jener westlichsten Region des Landes, die in der Ukraine wie früher zu Sowjetzeiten weiterhin „Transkarpatien“ genannt wird (von Mitteleuropa aus betrachtet liegt sie diesseits der Karpaten) und in fast jeglicher Hinsicht anders ist als der Rest der Ukraine. Es ist ein multikultureller Raum, wo neben Ukrainern vor allem Ungarn und Rumänen zu Hause sind (die einst große jüdische Minderheit wurde von den Nazis vernichtet). Bei den lokalen Dialekten handelt es sich nur sehr entfernt um Varianten des Ukrainischen. Diese sehr ländlich geprägte Region gehörte niemals zur Kiewer Rus‘, zum polnisch-litauischen Staat oder zum Russischen Reich. Jahrhundertelang ein Teil Ungarns, nach dem Ersten Weltkrieg Teil der Tschechoslowakei, während des Zweiten Weltkrieges wieder ungarisch, wurde das Land erst 1945 der damals sowjetischen Ukraine zugeschlagen. Obwohl nur etwa 350 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt, weiß bei uns kaum jemand etwas über dieses Land. Das ist normal; wer interessiert sich schon für osteuropäische Randgebiete oder Übergangszonen, wenn dort nicht gerade Krieg herrscht.

Heute bezeichnen sich die Karpatoukrainer selbst als „Transkarpaten“ – eine eigentümliche Identifikation als „jenseitig“, hinter dem Berg liegend und somit anders. Normal ist so etwas sicher nicht, aber aussagekräftig. Viele Transkarpaten verlassen ihre Heimat, um anderswo Arbeit zu suchen. Auch Serhij fühlt sich, seit er nach der Schule seine Region verlassen hat, „wie im Exil“.

Die Karpatoukraine ist für Serhij ein magischer Ort, ein „grünes Labyrinth“ aus Wäldern, Feldern und Bergen. Der Familienname Forkosh ist ungarischen Ursprungs. Er selbst spricht kein Ungarisch. Seine Muttersprache ist eine lokale Variante des Transkarpatischen, eine für ihn hoch emotionale, „affektive“ Mundart, die, so behauptet er, eine große Ähnlichkeit mit dem Italienischen habe. Es ist die Sprache seiner Seele, während das Ukrainische und das Russische seine geistige und intellektuelle Entwicklung geprägt haben. Das erste Philosophiebuch, das er jemals las, war auf Ukrainisch. Er war 14 Jahre alt. Die Lektüre löste bei ihm eine unbeschreibliche Euphorie aus, obwohl er kaum etwas von dem Gelesenen verstand, und bestimmte fortan sein Leben.

Serhij hat sämtliche russischen und ukrainischen Klassiker der Literatur gelesen und schwärmt vom russisch-jüdischen, aus Odessa stammenden Schriftsteller Isaak Babel. Babel und die von Serhij gleichermaßen bewunderte russische Dichterin Marina Zwetajewa sind weltberühmt. Den 1936 verstorbenen ukrainischen Schriftsteller Wasil Stefanik, von dem Serhij ebenfalls begeistert ist, kennt bei uns hingegen kaum jemand. Er teilt das Schicksal vieler Autorinnen und Autoren, deren Länder erobert und kolonisiert wurden. Sich der Sprache der Herrscher anzupassen und ihr zu schreiben, war „normal“ und naheliegend. Wer der eigenen, weit weniger prestigeträchtigen Muttersprache treu blieb, den bestrafte die Literaturgeschichte.

Das transkulturelle Fundament bildet Serhijs Normalität, sein Ukraine-Bild ist abseits nationalistischer Wallungen und simpler patriotischer Floskeln, auch wenn er sein Land voll und ganz im Kampf gegen die russische Aggression unterstützt.

Was ist die Ukraine? Für Serhij wird sie vor allem durch die ukrainische Sprache verkörpert – weich, formbar, flexibel, weil noch nicht akademisch verhärtet und normiert wie die großen Hochsprachen der Welt, wie Russisch oder Deutsch. „Eine Sprache der Schöpfung, die sich selbst erst im Schöpfungsstadium befindet.“ Das Ukrainische sei wie eine Flut, meint Serhij. Normalität im kreativen Chaos? „Die kontextuellen Risse in der ukrainischen Sprache geben mir die Möglichkeit, das Andere und den Anderen erst so richtig zu begreifen.“

Gibt es überhaupt Identität abseits des Abwegigen, des Ambivalenten und Mehrschichtigen? Das Normale, allzu Vorhersehbare, eine Illusion?

„Der Ukrainer“, erklärt Serhij, „ist von seinem Verhalten her ein Europäer. Er ist ein politischer Mensch, am ehesten vergleichbar mit einem Bürger im alten Griechenland. Auf die großen Probleme hat er seine eigene, oft revolutionäre Antwort parat und muss für diese einstehen und kämpfen. Er hat den Willen dazu. Darin liegt seine große Stärke.“ Gerade das unterscheide ihn aber auch von den meisten Menschen im großen Nachbarland Russland. Dass politisches Engagement und revolutionäre Veränderungen, das in Frage stellen von Normalität also, zu den Wesenszügen des europäischen Geistes gehören, ist für einen Philosophen aus der Ukraine offenbar selbstverständlicher als für eine österreichische Lokalpolitikerin. „Normal“ denkende Menschen in Russland wiederum wissen, dass es wenig Sinn hat, gegen die Obrigkeit aufzubegehren, weil ohnehin immer alles beim Alten bleibt.

Was der Ukraine fehle, sei das Vertrauen in ein funktionierendes politisches und rechtliches System, sinniert Serhij, ein System, das in sich so stabil sei, dass es unabhängig von den handelnden Personen an dessen Spitze funktioniere und trotz unterschiedlicher politischer Programme und der von den politisch Verantwortlichen gesetzten Handlungsschwerpunkte einen Faktor der Stabilität und Kontinuität darstelle. In West- und Mitteleuropa gäbe es diese systemische Stabilität, in der Ukraine tendieren die Herrschenden immer noch mit jedem Machtwechsel auch die Spielregeln zu ändern, nach denen das ganze Land regiert werde.

Ich frage mich, ob Serhij wirklich recht hat, ob er unser Land und die bei uns und anderswo in Europa herrschenden Zustände nicht allzu sehr idealisiert. Wahrscheinlich sind wir der Ukraine ähnlicher, als es Serhij wahrhaben möchte.

„Philosophen und Politiker sind einander sehr ähnlich“, erklärt mir Serhij. „Wir beschäftigen uns mit Ideen. Die Idee eines Philosophen ist allumfassend. Der Politiker wiederum ist der Vermittler zwischen der Welt der Ideen und der Realität, die niemals ideal sein kann. Der Politiker muss einen Kompromiss finden. Ich selbst bin gegen die Forderung Platons, Philosophen sollten Politiker werden und Politiker Philosophen. Vielmehr plädiere ich für einen Dialog zwischen beiden.“

Was aber passiert, frage ich mich, wenn Politiker gar keine Ideen haben, die eine solche Bezeichnung verdienen, und jene Philosophen, die scheinbar zu einem Dialog bereit sind, nichts als Selbstdarsteller und Entertainer sind? Vielleicht steckt aber diese Frage selbst schon viel zu sehr in den Niederungen der Normalität unseres Daseins fest, um noch ernsthaft diskutiert zu werden …

Mit Serhij Farkosh reden ist wie barfuß über einen steinigen Grund wandeln. Nachdenken kann schmerzvoll sein. Dies aber ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was unser Leben so wertvoll und so faszinierend macht. Einen Gedanken konsequent weiterzuführen ist stets eine radikale Herausforderung.

Für Johanna Mikl-Leitner hingegen ist „radikal“ das Gegenteil von „normal“. Radikal aber bedeutet in seiner ursprünglichen Bedeutung, den Dingen auf den Grund, an die Wurzel, zu gehen. Das Gegenteil dazu ist nicht etwa normal, sondern halbherzig, lauwarm und glatt. Serhij Forkosh ist ein radikaler Mensch. Mit ihm zu reden, zu diskutieren, ihm zuzuhören, bedeutet, sich dem radikalen Denken anzunähern, heißt lernen, konsequent, stringent und selbstkritisch zu sein. Radikalität ist eine Auszeichnung, kein Makel, und man kann gleichermaßen radikal Positionen der Mitte vertreten wie man radikal in Frage stellen kann, ob es wirklich eine schweigende Mehrheit gibt, die bestimmte Dinge als normal ansieht. Die Frage nach dem, was „normales Denken“ bedeutet, kann ohnehin nicht anders als radikal gestellt werden, denn in Wirklichkeit handelt es sich keineswegs um einen Sommerlochfüller, sondern um etwas existenziell Wichtiges, das unser aller Selbstverständnis und Zusammenleben prägt.

Die niederösterreichische Landeshauptfrau war so unbedacht, den Ausdruck „radikal“ statt „extrem“ zu verwenden. Mit Letzterem hätte sie wohl stimmiger das ausgedrückt, was sie eigentlich sagen wollte. Dies aber hat wenig mit einer „Normalität“ zu tun, die alle Unebenheiten schlichtweg durch eine Asphalttrasse ersetzen möchte.

(c) Vladimir Vertlib

Serhij Forkosh wurde 1984 in Hruschowo, einem Dorf in der Karpatoukraine, geboren. 2005 schloss er das Studium der Rechtsphilosophie an der Rechtsakademie in Kyiv ab. Er verteidigte seine Doktorarbeit über die Philosophie und Methodologie der Physik (auf Basis dieser Arbeit wurde die Monographie „Schritt der Physik: von der Euphorie zum Durchbruch“ veröffentlicht). Seine Habilitationsarbeit hatte die Methodologie soziokultureller Transformationen zum Thema (ausgehend von dieser Dissertation wurde die Monographie „Horizonte der Kultur“ veröffentlicht). Serhij Forkosh unterrichtete an der Universität von Kyiv Philosophie. Er ist der Gründer des Instituts für soziokulturelle Transformation in Kyiv. Heute lebt Serhij Forkosh mit seiner Familie in Wien.

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