Lösung für den Nahost-Konflikt? Die beste aller Sackgassen

Von Vladimir Vertlib

„SALZBURGER NACHRICHTEN“, Samstag, 21. Oktober 2023

Gedanken eines jüdischen Russen im Kriegsjahr 2023. Und ein Plädoyer für die beste aller schlechten Lösungen im Nahen Osten.

BILD: Privat

Ich lebe zwischen zwei Kriegen. Zeitlich. Geografisch. Emotional. Im Osten führt mein ehemaliges Heimatland Russland einen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine – ein Land, zu dem ich ebenfalls persönliche und familiäre Bindungen habe. Im Süden hat die Terrororganisation Hamas in Israel, dem Land, in dem heute die meisten meiner Verwandten leben, das größte Massaker an Juden seit dem Holocaust verübt. Das macht mir Angst. Meine israelischen Verwandten harren in Bunkern oder fensterlosen Korridoren aus, kämpfen an der Front, versorgen Verletzte in Krankenhäusern. Es gibt Leichen, die so entstellt sind, dass sie nicht mehr identifiziert werden können, erzählt mir eine Cousine, die in der südisraelischen Stadt Aschdod als Krankenschwester arbeitet. Im Netz kursieren Bilder von entführten jüdischen Kindern, die von der Hamas in Gaza in Hühnerställen zur Belustigung des Mobs ausgestellt werden. Ob die Bilder und die Berichte dazu echt sind? Vielleicht nicht, doch wahrscheinlich schon.

Ich bin Jude und weiß, dass ich vielerorts, auch in Europa, stets gefährdet bin. Wenn Terroristen zuschlagen, sind jüdische Einrichtungen und Juden oft ihre primären Ziele. Die Judenmorde im Nahen Osten lassen die potenziellen Judenmörder in Europa und anderswo frohlocken, vielleicht sogar selbst wieder aktiv werden.  Mir ist klar: alles, was man seit Langem für unmöglich gehalten hatte, kann wieder passieren. Und alles, was passieren kann, wird mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann wirklich geschehen. Die Frage ist nur, wie rasch und in welchem Ausmaß …

Für den Nahostkonflikt gibt es keine Lösungen mehr, nur Auswege, die mit etwas Glück in ruhigere Sackgassen führen. Was die Hamas-Mörder getan haben, war kein Befreiungsschlag, kein antikolonialistischer, kein politischer Akt, ja nicht einmal eine Militäroperation. Schon gar nicht ging es um die Befreiung der „Brüder“ im Westjordanland von der israelischen Besatzung. Vielmehr war es ein Massenmord, vergleichbar mit jenem der SS-Einsatzgruppen, der Pogrome in Osteuropa oder der Massaker an Juden während der Kreuzzüge im Mittelalter – ausgeführt im Stil des IS und der Taliban. Die Menschen wurden ermordet, weil sie Juden waren oder weil sie in Israel gelebt hatten. Ein arabischer Bekannter von mir, mit dem ich zusammen als freiwilliger Helfer im Jahre 2015 in Salzburg Flüchtlingen geholfen hatte, schrieb mir daraufhin: „Die Palästinenser sind standhaft geblieben. […] Wahnsinnig großen Respekt an diese Löwen und Löwinnen.“ Die Morde an Juden waren ihm ein Lachsmiley wert. Andere Leute ergehen sich in Gewaltfantasien, sprechen den „Pallis“ (Palästinensern) ihre Identität und die Existenzberechtigung in ihrem Land ab, fordern ihre Vertreibung und missbrauchen diesen Krieg und das Leid der Opfer dafür, um ihre islamfeindlichen und rassistischen Gedanken zu rechtfertigen.

Kann es nach solchen Gräueltaten, den Reaktionen darauf und dem nachfolgenden Krieg mit unzähligen weiteren zivilen Opfern noch zu Friedensverhandlungen kommen? In zwanzig oder dreißig Jahren – vielleicht. Sogar die Erbfeinde Frankreich und Deutschland haben sich schließlich irgendwann einmal versöhnt. Immerhin leben heute Juden in Deutschland und Österreich, wo man sie vor einigen Jahrzehnen genauso verachtet, verfolgt, misshandelt, verhöhnt und ausrotten wollte wie die Hamas heute. Auch ich habe als Jude in Österreich eine Heimat gefunden, aber ich bin froh, dass fast niemand mehr am Leben ist, der in der NS-Zeit schon erwachsen war.

Wenn jedoch ein mehr als hundert Jahre andauernder Konflikt mit einem Massaker seinen bisherigen negativen Höhepunkt erreicht, wenn die muslimische Welt – immerhin mehr als eineinhalb Milliarden Menschen – im winzigen Israel und den etwa 15 Millionen Juden weltweit ihre Todfeinde sieht, wenn Generationen von Kindern dazu angehalten werden, im jeweils anderen Monster und Untermenschen zu erkennen, wenn Palästinenser im Weltjordanland seit mehr als fünfzig Jahren unter einer Besatzung zu leiden haben, wenn radikale jüdische Siedler und islamistische Terroristen einander immer ähnlicher werden, dann dürfte ein echter Frieden frühestens im nächsten Jahrhundert möglich sein.

Was also tun? Die Zeit von Verhandlungen ist vorbei. Seit dreißig Jahren verhandeln Israelis und Palästinenser und finden keinen Kompromiss, weil Extremisten auf beiden Seiten einen solchen immer wieder zu torpedieren verstehen. Ein „binationaler Staat“ – die Fantasie einiger Altlinker und die Wohlfühlidee einiger junger, sanfter Intellektueller in Europa – ist nun endgültig zu einem Ding der Unmöglichkeit geworden. Ein solcher Staat würde zudem das zionistische Projekt ad absurdum führen. Israel wurde als Reaktion auf den Judenhass und die versuchte Ausrottung des jüdischen Volkes gegründet. Israel bietet Juden auf der ganzen Welt Schutz, verteidigt sie gegen Angriffe und Verfolgungen und ist in erster Linie ein Staat von Juden für Juden, der mehrheitlich jüdisch bleiben soll. Ich lebe nicht in Israel, aber gäbe es Israel nicht, würde ich mich auch hier in Europa viel unsicherer fühlen. Zu tief und letztlich unauslöschbar ist der Antisemitismus sowohl in der christlichen als auch der islamischen Kultur verwurzelt und ist inzwischen leider auch in anderen Kulturkreisen anzutreffen. Mit Geschichten über Pogrome, über die Schoah und die Verfolgungen und Diskriminierungen von Juden in der Sowjetunion, die meine Eltern miterleben mussten, bin ich aufgewachsen. Wie sehr Geschichte sich auch heute, unter geänderten Bedingungen, wiederholen kann, beweisen sowohl der Krieg in der Ukraine als auch die von der Hamas verübten Massenmorde.

Gibt es die erwähnten Auswege, die friedlicheren Sackgassen? Ethnische Säuberungen sind nicht nur unmoralisch und illegal, sondern auch logistisch kaum durchführbar. Nur Rechtsradikale und Verrückte verlangen die Deportation aller Araber aus Palästina. Ich kenne solche Menschen; es hat keinen Sinn, mit ihnen zu diskutieren. Den Status Quo aufrechtzuerhalten, hieße nur, auf das nächste Massaker zu warten. Das israelische Besatzungsregime im Westjordanland zerstört sowohl die palästinensische als auch die israelische Gesellschaft, korrumpiert, verhärtet, traumatisiert und höhlt die Demokratie aus. Wie vielen weiteren Generationen ist das alles denn noch zumutbar?

Eine Zwei-Staaten-Lösung? Die meisten Expertinnen und Experten meinen, dass dieses Projekt inzwischen ebenfalls tot ist. Als möglicher Kompromiss, der beide Seiten einigermaßen zufriedenstellen würde, ist er das wohl auch. In diesem Konflikt gibt es keine Kompromisse mehr, es gibt keine Sieger, nur Verlierer. Unter den gegebenen Umständen sind keine sachlichen Gespräche möglich. Israel hat keine gute Regierung, die Hamas ist an einem Frieden nicht interessiert, und die Palästinensische Autonomiebehörde hat längst weder die Macht noch den Spielraum, mit der israelischen Seite etwas Nachhaltiges auszuhandeln. Bleibt nur das, was Ariel Scharon im Jahre 2005 begonnen hat – der einseitige Rückzug auf von Israel selbst definierte und der anderen Seite oktroyierte sichere Grenzen. Die böte die Chance für den Übergang von einem heißen zu einem kalten Krieg. Es wäre die beste aller schlechtesten Lösungen. Die Grenze könnte jene von 1967 sein, was dem Verzicht Israels auf das ganze Westjordanland und Ostjerusalem gleichkäme, oder aber man könnte Ostjerusalem und ein paar der größten Siedlungsblöcke in Israel belassen – die politisch realistischere Variante. Für den angestrebten kalten Krieg würde das keinen großen Unterschied machen, denn die palästinensische Seite würde eine einseitige Grenzziehung durch Israel sowieso niemals akzeptieren oder gar als Akt des Friedens anerkennen, und Gruppen wie die Hamas oder die Hisbollah im Libanon, wenn sie nach dem aktuellen Krieg noch existieren, werden weiterhin ganz Israel zerstören wollen und den Terror in jedem Fall weiterführen. Letztlich ist es also egal, wo die Grenzen gezogen werden. Sie müssen nur für Israel gut zu verteidigen sein und dem palästinensischen Staat, der dann entstehen würde, ein verwaltbares, existenzfähiges, also zusammenhängendes Territorium zugestehen. Dies würde klare Verhältnisse schaffen, das Besatzungsregime weitestgehend beenden, der palästinensischen Bevölkerung die Chance geben, über ihr Schicksal selbst zu bestimmen und von Israel den Makel des Okkupanten und Aggressors nehmen. Die Mauern und Zäune zwischen beiden Staaten müssten allerdings noch viel höher und tiefer sein, das Niemandsland breiter, die Sperren noch größer. Ob das eine Garantie gegen weitere Kriege, Morde und Ungerechtigkeiten darstellt? Natürlich nicht. Israel könnte dann auch von Hebron oder Ramallah aus mit Raketen beschossen werden, und ein offener Krieg zwischen beiden Staaten könnte jederzeit ausbrechen. Doch welche Alternative gibt es realistischerweise noch? Mir fällt keine bessere ein.

Vladimir Vertlib ist österreichischer Schriftsteller russisch-jüdischer Herkunft.

© Vladimir Vertlib

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