Nach dem 7. Oktober 2023
Von Vladimir Vertlib. Erschienen in: „Illustrierte Neue Welt“, Wien, Ausgabe 4/2023, S. 1-3
Gäbe es das jüdische Volk nicht, hätten andere es wahrscheinlich erfunden. Wer mit seinen eigenen Gefühlen nicht umgehen kann, überträgt diese oft auf Juden. Diese werden je nach Kontext als „Zionisten“ und „Kolonialisten“, als „Kapitalisten“ oder „Terroristen“, als „besonders klug“, „erfolgreich“, „weise“, als „großzügig“, aber auch „geldgierig und geizig“, „verschlagen“ oder „geil“ wahrgenommen. Juden sind Opfer oder Täter, je nachdem, in welcher Rolle man sie gerade für eigene Zwecke braucht. Sie bilden Projektionsflächen oder Schatten jener Anteile des eigenen Selbst, die man gerne verdrängt. Wenn es um Juden geht, hat fast jeder eine dezidierte Meinung. Allein das Aussprechen des Wortes „Jude“ oder „Jüdin“ löst in großen Teilen der Welt starke Emotionen aus – Unbehagen, Schuld, Abwehr, Ambivalenz. Das alles ist nicht neu, es wurde unzählige Male untersucht, beschrieben und analysiert. Umso erstaunlicher ist es, dass der Antisemitismus in seinen zahlreichen Facetten als Variation zum selben Thema immer wieder auftaucht und dabei jedes Mal auf erschreckende Weise dem ähnelt, was vor dreißig, achtzig oder hundert Jahren von intelligenten Menschen längst durchschaut, verdammt und scheinbar überwunden worden war. Die Reaktionen auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den daraufhin von Israel gegen die Hamas geführten Krieg zeigen dies besonders deutlich.
Kein aktueller Konflikt, und sei er noch so grausam und blutig, nicht einmal jener in der Ukraine, der uns in Europa viel unmittelbarer betrifft, in Kurdistan, in Syrien, auf dem Balkan und schon gar nicht die Bürgerkriege, Massaker und Entführungen in Westafrika oder dem Kongo, auch nicht die blutig unterdrückten Proteste gegen das totalitäre Regime im Iran erregen bei uns die Gemüter so sehr wie der Kampf um das winzige Land im Nahen Osten, das flächenmäßig (Israel samt Golanhöhen, Ostjerusalem, Westjordanland und dem Gaza-Streifen) gerade einmal die Größe von Nieder- und Oberösterreich zusammen hat. Das mag damit zu tun haben, dass es sich für Christen, Juden und Muslime um ein „Heiliges Land“ handelt, vor allem aber liegt es daran, dass es dort neben Palästinensern um Juden geht.
Der Holocaust kann niemals „historisch“ werden, weil Juden vielerorts weiterhin mit Terror, Hass und Vorurteilen konfrontiert sind. Arabische Einwanderer skandierten in Europa in den letzten Jahrzehnten immer wieder „Ithab al Jahud!“ („Schlachtet die Juden!“). Die Terrorgruppe Hamas hat die Aufforderung nun in die Tat umgesetzt. Am 7. Oktober hat sie das größte und brutalste Massaker an Juden seit dem Holocaust verübt. Doch in großen Teilen der Welt wird heute trotzdem nicht die Terrororganisation, sondern der jüdische Staat an den Pranger gestellt. Nicht die Hamas, die gezielt Kinder und Frauen tötete, folterte oder verschleppte, wird verdammt, sondern die israelische Armee, die Ziele im Gaza-Streifen bombardiert und dabei Zivilpersonen tötet. Gewiss: Jedes zivile Opfer ist eines zu viel; jedes getötete Kind ist eine unbeschreibliche Tragödie, und zweifellos ist das Vorgehen Israels, sowohl was die politischen, als auch die militärischen Maßnahmen betrifft, in vielerlei Hinsicht bedenklich und hinterfragbar. Sachliche Kritik ist immer legitim. Kritik an der israelischen Politik ist kein Antisemitismus. Man sollte dabei aber niemals vergessen, wer ein geplantes, gezieltes Massaker an Kindern und anderen Zivilpersonen verübt und wer darauf reagiert hat, wer bewusst unschuldige Menschen als Ziele ausgewählt hat, und wer als Reaktion darauf im Kampf gegen Terroristen zivile Opfer in Kauf genommen, davor jedoch durchaus versucht hatte, solche Opfer zu vermeiden.
Doch in einer polarisierten Welt bleiben Stimmen der Differenzierung leise. Für das Vorgehen der israelischen Regierung und der Armee müssen nicht nur Israelis, sondern manchmal auch Juden außerhalb Israels einen hohen Preis zahlen. Eine französische Jüdin wurde ermordet. Andere werden bedroht, beschimpft oder attackiert. Das ist längst kein „Kampf für die Befreiung Palästinas“ mehr, sondern schlichtweg Judenhass, der sich einen Anlass sucht, um sich zu offenbaren und aktiv zu werden.
Juden werden in der Öffentlichkeit selten genauso wahrgenommen und behandelt wie andere. Kaum jemand zum Beispiel macht die bei uns lebenden Menschen türkischer Herkunft für die von Erdoğan angeordneten Bombardierungen kurdischer Gebiete in Syrien oder dem Irak verantwortlich, und niemand verlangt von Zuwanderern aus China Rechenschaft für die Unterdrückung von Tibetern oder Uiguren durch die chinesischen Machthaber. Wer spricht noch vom anhaltenden Bürgerkrieg in Syrien oder den Vertreibungen von Muslimen aus Myanmar, wer empört sich noch über den Terror der Taliban oder die de facto Vertreibung der gesamten armenischen Bevölkerung aus Berg-Karabach?
Einige Wochen nach Kriegsbeginn brachte der ORF zur besten Abendsendezeit eine Spezialsendung, in der die historischen Hintergründe und Ursachen des Nahostkonflikts beleuchtet wurden. Manches blieb dabei zwar an der Oberfläche, wurde verkürzt dargestellt oder ganz weggelassen, doch waren die vermittelten Informationen weitgehend korrekt, die Interviews mit Fachleuten und Journalisten an verschiedenen Orten der Welt spannend; die Analysen regten zum Nachdenken an. Stutzig machte mich nur die Behauptung des von mir geschätzten, aus Kairo berichtenden ORF-Korrespondenten Karim El-Gawhari. Dieser erklärte den Hass auf Israel in den arabischen Ländern des Nahen Ostens damit, dass der Zionismus als kolonialistisches Projekt wahrgenommen werde. Wären, so El-Gawhari, nicht Juden, sondern Inder nach Palästina gekommen, um dieses Land zu besiedeln und seine ursprünglichen Bewohner zu vertreiben, dann gäbe es in der arabischen Welt heute einen Hass auf Inder und nicht auf Juden … Wenn ich das höre, frage mich trotzdem, warum nach so vielen Eroberungen, Vertreibungen und Massakern, die der Nahe Osten im Laufe seiner Geschichte erlebt hat, gerade der Konflikt in einem so winzigen Land wie Palästina so viel Hass und so viele Emotionen hervorruft.
Viele der jungen Menschen, ob Muslime oder nicht, die heute mit „Free Palestine“-Plakaten auf die Straße gehen, das „Ende der Besatzung“ fordern (manche meinen damit nur das Westjordanland, andere wollen allerdings, dass Israel von der Landkarte verschwindet) und für ein Ende des Krieges in Gaza demonstrieren, sind keine Judenhasser. Für sie ist Israel tatsächlich ein Symbol für den Kolonialismus, für westliche Anmaßung und die Herrschaft des „Nordens“ gegen den „Süden“, für Ungleichbehandlung, Demütigung, Rassismus, Unterdrückung und einen vermeintlichen Kampf gegen den Islam. Afroamerikaner und Geflüchtete, junge Linke, die gegen „das System“ sind, eine weltweit bekannte junge Klimaaktivistin und die überwiegende Mehrheit der Muslime auf der ganzen Welt identifizieren sich deshalb mit dem „Kampf der Palästinenser für ihr Land“, und zwar nicht, weil sie wirklich Empathie für die Menschen in Gaza oder dem Westjordanland oder für die Bewohner der Flüchtlingslager im Libanon oder in Syrien oder etwas gegen Juden haben, sondern weil der Nahostkonflikt für sie die Metapher für die Abgründe ihrer eigenen Lebensgeschichten, für ihre eigenen Enttäuschungen, Demütigungen oder bestimmte Traumata ihrer Familien sind. Dies hat oft weder etwas mit der historischen Realität noch mit Juden, Arabern oder dem Nahen Osten zu tun. Dass sich aber ausgerechnet die Entstehungsgeschichte und die Gegenwart des Staates Israel zu einer solch universellen und weltumspannenden Metapher entwickeln konnte, hat demgegenüber jedoch sehr wohl etwas mit Antisemitismus, mit tradierten Vorurteilen und Klischees zu tun. So bestimmen und prägen Antisemiten die Narrative jener, die mit Antisemitismus eigentlich nichts am Hut hätten. Und oft ist das ihnen nicht einmal bewusst.
Karim El-Gawhari erzählte, dass sein aus Ägypten stammender Vater in einer Familie aufwuchs, die sich mit ihren jüdischen Nachbarn gut verstand. Juden seien in der islamischen Welt viel seltener verfolgt worden als in Europa. Sie seien Menschen zweiter Klasse gewesen, lebten aber jahrhundertelang in relativer Sicherheit. Das ist richtig. Kaum bekannt bei uns sind jedoch die zahlreichen Pogrome und Vertreibungen von Juden in den Jahren nach 1948, die in praktisch allen arabischen Ländern stattfanden. Knapp eine Million Juden musste ihre Heimat verlassen. Die meisten von ihnen zogen nach Israel. Wenn die Feindschaft gegen Israel ein Akt des Anti-Kolonialismus war, warum mussten dann irakische, ägyptische oder marokkanische Juden vertrieben werden, die doch selbst Teil des „Globalen Südens“ waren und in vielen Fällen den Zionismus gar nicht unterstützten? Die Antwort darauf ist einfach. Karim El-Gawhari irrt: Auch wenn Inder ganz Palästina und dazu noch Jordanien und den Libanon erobert hätten, wäre der Hass auf sie in der islamischen Welt niemals so groß gewesen wie jener auf Juden.
Fachleute forschen seit Jahrzehnten und werden weiter forschen und darüber diskutieren, welche Faktoren maßgeblich zu jener Situation beigetragen haben, die wir heute erleben. Im Nahen Osten hat zweifellos neben dem im Islam wurzelnden Judenhass vor allem der importierte Antisemitismus aus Europa, die antijüdische NS-Propaganda während des Zweiten Weltkrieges und ein mit dem aufkommenden arabischen Nationalismus verknüpfter, von der mit vielen arabischen Staaten verbündeten Sowjetunion unterstützter und geförderter „Antizionismus“ eine Rolle gespielt haben. Wie all diese Faktoren zusammengewirkt haben und immer noch zusammenwirken, ist Stoff für viele spannende akademische Diskussionen. Allein – sie ändern nichts an den Tatsachen, mit denen wir heute umgehen müssen. Als palästinensische Bewohner von Beirut, Ramallah und Gaza oder arabische Bewohner von Berlin und der Pariser Banlieue vom Massaker der Hamas an Israelis erfuhren, jubelten sie, feierten und verteilten Süßigkeiten. Der gezielten Ermordung von Babys und der Vergewaltigung von Frauen begegneten sie also mit Freude und mit Stolz. Währenddessen jubelt in Israel niemand über die im Krieg getöteten arabischen Kinder im Gaza-Streifen.
Mein aus Syrien stammender, leider mit nicht ganz 33 Jahren tödlich verunglückter Freund und Kollege Jad Turjman erzählte mir einst, dass er erst nach seiner Flucht und der Ankunft in Österreich das erste Mal den Namen Anne Frank gehört hatte. Erst hier erfuhr er, dass es einen Holocaust, dass es Vernichtungslager und Gaskammern gegeben hatte, lernte er etwas über jüdische Geschichte und Kultur, erhielt er Informationen über Israel, die mehr waren als syrische Hasspropaganda, mit der er aufgewachsen war.
In der arabischen Welt gehören antijüdische Vorurteile und Propaganda gegen Israel zum Schulprogramm. Die Protokolle der Weisen von Zion sind weiterhin ein Bestseller, und sogar Hitlers Mein Kampf wird gerne gelesen. Währenddessen schüren radikale jüdische Siedler im Westjordanland (immerhin nur eine Minderheit innerhalb der israelischen Gesellschaft) den Hass auf Araber, gehen gewalttätig gegen die palästinensische Bevölkerung vor und vertreiben Menschen aus ihren Häusern. Gewalt führt zu Gegengewalt. Jeder Mord, jede Demütigung, jede Verletzung wirken nach, werden an die nächsten Generationen weitergegeben, verlängern ein kollektives Gedächtnis des Schmerzes und des Zorns, das für beide Seiten gleichermaßen traumatisierend wie identitätsstiftend ist.
Der 2018 verstorbene große israelische Schriftsteller und Friedensaktivist Amos Oz sagte in einer Vorlesung, die er 2002 im Rahmen seiner Tübinger Poetikdozentur hielt: „Selbst, wenn man hundertprozentig recht hat und der andere hundertprozentig unrecht, ist es immer noch von Nutzen, sich in den anderen hineinzuversetzen. Eine Komponente [unserer] Tragödie ist die Tatsache, dass viele israelische Juden nicht erkennen, wie tief die emotionale Bindung der Palästinenser an ihr Land ist. Und viele Palästinenser schaffen es nicht, zu erkennen, wie tief eben gerade die jüdische Bindung an dasselbe Land ist. Die Erkenntnis über diese Tiefe der Wurzeln ist ein schmerzhafter Prozess für beide Nationen.“ Vor zwanzig Jahren konnte man sich noch der Illusion hingeben, dass dieser „schmerzhafte Prozess“ für beide Nationen in absehbarer Zeit möglich wäre … Wiederum Amos Oz: „Sehr oft schaffen es Araber nicht, uns als das zu sehen, was wir, die israelischen Juden, wirklich sind: eine Gruppe von halb hysterischen Flüchtlingen und Überlebenden, gejagt von entsetzlichen Alpträumen, traumatisiert, nicht nur durch Europa, sondern auch durch die Art und Weise, wie wir in arabischen und islamischen Ländern behandelt wurden. Die Hälfte der israelischen Bevölkerung sind Menschen, die aus arabischen und islamischen Ländern rausgeschmissen worden sind.“ Nach allem, was in letzter Zeit geschehen ist, gibt es wohl keinen Raum mehr für Verständnis oder Empathie für die „Gegenseite“. Zu schmerzvoll ist das Erlebte, zu groß die Traumata. Wenn man sich über das Leid des „Anderen“ nicht freut, wenn man nicht frohlockt und feiert, sondern schlichtweg gleichgültig bleibt, kann man das schon als Zeichen von Humanität werten.
Für uns Jüdinnen und Juden bedeutet die Realität der Welt nach dem 7. Oktober 2023, dass die Existenz des Staates Israel als mehrheitlich jüdischer Staat wichtiger ist denn je. Wenn es jüdische Menschen in Israel gegeben hatte, die bis vor kurzem noch glaubten, ein binationaler palästinensisch-jüdischer Staat sei eine realistische Option, so werden sie nach dem Massaker der Hamas und dem Jubel darüber in der arabischen Welt einsehen, dass die praktische Umsetzung ihrer Fantasien zwangsläufig in ihrer eigenen Vernichtung münden würde. Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft in Europa und anderswo auf der Welt sollten die Reaktionen auf den Gaza-Krieg und die damit verbundene zunehmende Bedrohung zeigen, wie präsent der Antisemitismus immer noch ist. Nicht auszudenken, was Jüdinnen und Juden erleben müssten, wenn es Israel nicht mehr gäbe, wie schutzlos, ohnmächtig und ausgeliefert sie sich fühlen müssten.
Vielleicht sollte man aller Vernunft zum Trotz optimistisch bleiben, vielleicht aber ist es ein Akt höherer Vernunft, die eigenen Illusionen nicht zu verlieren. Zu diesen Illusionen gehört die Vorstellung von einem jüdischen und einem palästinensischen Staat, die getrennt nebeneinander existieren, ohne einander zu beschießen, ohne einander gegenseitig vernichten zu wollen – nicht aus Respekt füreinander, sondern aus pragmatischen Gründen: Ein kalter Krieg, dem man vertrauen kann. Dafür aber müssen irrationale Schwerverbrecher und Terroristen wie die religiösen Fanatiker der Hamas besiegt und unschädlich gemacht werden. Der Frieden kommt später. Irgendwann.
© Vladimir Vertlib



