SCHÄBIG, SCHAURIG, SCHIZOID: GEDANKEN ZUM KRIEG IN DER UKRAINE
Dies ist die Langfassung eines am 7. März 2015 in: Die Presse (Wien), Spectrum, S. III, publizierten Artikels
Es gibt wenige Länder, die einander so ähnlich sind wie Russland und die Ukraine. Jene, die heute mit Waffen und Worten gegeneinander kämpfen, haben oft dieselben Bücher gelesen und dieselbe Musik gehört.
Alexander Scharowarow, Direktor des Opern- und Balletttheaters von Dnepropetrowsk (Ukraine), sympathisiert mit den russischen Separatisten im Osten des Landes. Diese Tatsache wird von ihm nicht verheimlicht. Im Jänner 2015 stürmt eine Gruppe ukrainischer Nationalisten sein Büro und verlangt von ihm, er solle kündigen. Neben „antiukrainischer Gesinnung“ werfen ihm die – größtenteils Russisch sprechenden – „Aktivisten“ Korruption und Amtsmissbrauch vor. Der Direktor, ein kultiviert aussehender Herr in mittleren Jahren mit Anzug und Krawatte, protestiert, versucht, mit den aufgebrachten Eindringlingen ein „konstruktives“ Gespräch zu führen. Das bringt nicht viel. „Wir verlangen, dass Sie jetzt sofort Ihre freiwillige Rücktrittserklärung schreiben!“, schreien die Aktivisten, während sie das Büro durchsuchen und schließlich fündig werden: eine russische Fahne! Damit ist das Schicksal von Herrn Scharowarow besiegelt. Er wird gepackt, in einen Hinterhof des Theatergebäudes gezerrt, mit rohen Eiern beworfen und in einen Müllcontainer geworfen.
Die soeben geschilderte Szene ist in der heutigen Ukraine kein Einzelfall. „Mülllustrationen“ nennt man dort die Demütigung politischer Gegner – von Lokalpolitikern, korrupten oder angeblich korrupten Beamten, von Anhängern des gestürzten Präsidenten Janukowitsch oder schlichtweg von Menschen, die den „Lustratoren“ aus irgendeinem Grund ein Dorn im Auge sind. Die Polizei greift nicht immer ein, schaut oft zu, auch dann, wenn sie anwesend ist, so wie beispielsweise im Oktober 2014 gleichfalls in Dnepropetrowsk, als eine Frau, wahrscheinlich eine Beamtin, im Müllbehälter landet. Teilnahmslos schauen die Gesetzeshüter zu, wie die Aktivisten unter dem Beifall zahlreicher Passanten den Deckel schließen, derauf herumtrommeln, johlen, klatschen und Parolen skandieren: „Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden! Tod den Feinden!“
Die Ukraine ist ein Land im Krieg, auch wenn er dort offiziell und sehr euphemistisch ATO (Antiterroristische Operation) heißt. Viel weniger euphemistisch klingt es, wenn der politische und militärische Gegner als „Biomüll“ bezeichnet wird, oder wenn der ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk im Zusammenhang mit den Separatisten im Donbass von „Untermenschen“ spricht. Nur zweihundert Kilometer von Dnepropetrowsk entfernt wurden Menschen bis vor kurzem erschossen, von Granaten zerfetzt oder hingerichtet, und trotz „Waffenruhe“ gibt es weiterhin Tote. Was sind dagegen schon ein paar „Mülllustrationen“?
„Revolution der Müllcontainer“ nennt dies der ultranationalistische „Rechte Sektor“, der die Kampagne initiiert hat. Selbsverständlich gehört zu jeder Lustration gleichwie zu fast jeder noch größeren Abscheulichkeit ein entsprechendes Video, das die Täter anfertigen und stolz ins Netz stellen.
„Die Ukraine, das ist Europa!“, schrien letztes Jahr die Demonstranten auf dem Maidan in Kiew und in anderen Städten der Ukraine. Ob sie sich den Weg nach Europa so vorgestellt hatten?
Szenenwechsel: Donezk, 24. August 2015. Die Machthaber der so genannten Volksrepublik Donezk haben sich für diesen sonnigen Spätsommertag etwas Besonderes einfallen lassen. Eine Gruppe ukrainischer Kriegsgefangener wird zur Schau gestellt, durch die Stadt getrieben, gedemütigt. „Parade der Besiegten“ wird dies genannt, eine Inszenierung, an der sich Tausende Zivilisten beteiligen. „Tod den Faschisten!“, schreien Menschen am Straßenrand. „Auf die Knie!“, schreien andere. „Hackt ihnen die Arme ab, damit sie nicht mehr schießen können!“, brüllt ein alter Mann. „Jagt sie alle durch ein Minenfeld!“, verlangt jemand. „Bringt ihre Mütter her, damit sie sehen, was für einen Abschaum sie geboren haben!“
Laut Genfer Konvention ist die Misshandlung und Demütigung von Kriegsgefangenen verboten, doch wen kümmert in den Kriegen am Rande und im Hinterhof Europas in Zeiten von YouTube und Facebook schon die Genfer Konvention. Auf mehreren Videos, die im Internet zu finden sind, sieht man Kriegsgefangene, die auf der Straße knien, verhört, beschimpft oder geschlagen werden, einstudiert wirkende Phrasen murmeln oder Selbstkritik üben.
Das ist weder typisch russisch noch ukrainisch, sondern sowjetisch, und die „Parade der Besiegten“ vom August 2014 ist die Re-Inszenierung eines ähnlichen Ereignisses aus der Sowjetzeit. Am 17. Juli 1944 marschierten rund 57.000 deutsche Kriegsgefangene durch die Straßen von Moskau. Diese Propagandamaßnahme, welche vor allem die Moral der eigenen Bevölkerung stärken sollte, hieß damals – noch etwas zynischer – „Der große Walzer“. Stundenlang mussten die entkräfteten Wehrmachtsoldaten durch die Stadt marschieren, flankiert von Rotarmisten mit Bajonett-bestückten Gewehren im Anschlag und mit Straßenreinigungswagen, die der „Parade“ folgten, um die Straßen – im direkten und im übertragenen Sinne – vom „faschistischen Unrat“ zu säubern. „Tod den Faschisten!“, schrien die Menschen am Straßenrand. Und: „Auf die Knie!“.
Siebzig Jahre später stellten die Separatisten in Donezk alles exakt nach – einschließlich Bajonette und Reinigungswagen. An diesem Ereignis und nicht nur daran erkennt man, wie präsent der Zweite Weltkrieg in der Köpfen der Menschen immer noch ist. Das gilt für alle unmittelbar vom Krieg Betroffene genauso wie für die zahlreichen „Kommentatoren“ im Internet, die des Russischen mächtig sind, also für Menschen aus der gesamten ehemaligen Sowjetunion. Einige, die Minderheit, nehmen ausgewogene oder neutrale Haltungen ein und argumentieren differenziert, die Stellungnahmen der meisten anderen hingegen sind deutlich und derb.
„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“, hat man in meiner Jugend gesagt. „Stell dir vor, es ist Krieg, und jeder, der will, macht mit“, müsste es heute heißen. „Couchhelden“ werden diese Menschen genannt, die irgendwo im fernen Nowosibirsk, in Moskau, Woronesch oder im nunmehr russischen Sewastopol sitzend ihre ukrainischen Internet-Gesprächspartner als Idioten, Mörder, Hunde oder Faschisten bezeichnen. Dies könnte man als eine Nebenwirkung dieses von Propaganda und Gegenpropaganda in den Massenmedien, von Lügen, Geschichtsfälschungen und gegenseitigen Vorwürfen geprägten Konflikts abtun, wenn es nicht in einem wesentlichen Maße noch weiter anheizen, verletzten, noch mehr Hass erzeugen und somit zu einer Verlängerung des Konfliktes in den Köpfen der Menschen beitragen würde. Das Internet mit seinem Entgrenzungspotenzial, der Möglichkeit auf unpersönliche Weise sehr persönlich zu werden, sich hinter einem Fantasienamen und einem Avatar zu verbergen, scheint wie geschaffen für einen Krieg.
Sowohl für Anhänger der Ukraine als auch für jene der russischen Separatisten und des Putin-Regimes besteht die jeweils andere Seite aus „Faschisten“ und „Nazis“, die Städte bombardieren, unschuldige Zivilisten töten und Kriegverbrechen begehen. Beide beschwören das Erbe ihrer Großväter und Urgroßväter, die im „Großen Vaterländischen Krieg“ gemeinsam Nazi-Deutschland besiegt hatten und sich nun „im Grabe umdrehen“, wenn sie sehen, dass die eigenen Enkel und Urenkel zu „Erben Hitlers“ geworden seien. Gleichzeitig unterstellen Russen und Ukrainer den Angehörigen des jeweils anderen Volkes, ihre Vorfahren hätten während der Besatzungszeit mit den Nazis kollaboriert, und streiten darüber, ob mehr ukrainische oder russische Freiwillige für Nazi-Deutschland gekämpft hätten. Für russische Nationalisten und Anhänger Putins haben sich die „ukrainischen Faschisten und Chauvinisten“ an die USA und den Westen verkauft, zumal die gesamte Maidan-Bewegung, der Sturz des Präsidenten Janukowitsch und die von vielen Ukrainern angestrebte Annäherung an die EU als eine Verschwörung des Westens gegen Russland gesehen wird, dessen nationale Wiedergeburt, Größe und Wohlergehen verhindert werden sollen. Russland wäre der natürliche Verbündete der Ukraine. Stattdessen werde die Ukraine vom Westen ausgebeutet, und die Ukrainer seien so dumm zu glauben, dem Westen gehe es wirklich um Demokratie oder Menschenrechte.
Nun gelte es, gegen die „Ukrofaschisten“ ins Feld zu ziehen. Diese Vorstellung hindert viele „Antifaschisten“ allerdings nicht daran, die derzeitige ukrainische Regierung als „jüdische faschistische Junta“ zu bezeichnen, bei jedem führenden Politiker des Landes, allen voran beim Präsidenten Petro Poroschenko, eine jüdische Herkunft zu entdecken und somit etwas von einer jüdischen Verschwörung zu faseln. Ukrainer seien verschlagen, bösartig, feige und vor allem dumm, ihr einziges Exportgut nach Europa seien „billige Nutten“. Gleichzeitig wird ihnen eine eigene Identität abgesprochen, ihre Sprache sei nichts als ein russischer Dialekt, in Wirklichkeit seien sie Russen und somit letztlich doch „Brüder“. Das Ukrainertum, heißt es manchmal, sei keine Ethnie, sondern eine Geisteshaltung oder eine Krankheit. Gelegentlich liest man sogar, dass die ukrainische Nation eine ausländische Erfindung sei, was unter anderem an den Staatssymbolen erkannt werden könne: Die ukrainische blau-gelbe Flagge zum Beispiel sei auch die Flagge Niederösterreichs. Die Ukraine – ein niederösterreichisches Produkt?
Die Anhänger der Ukraine kämpfen ihrer Ansicht nach gleichfalls gegen den Faschismus, der zeitgemäß als „Raschismus“ (eine Verballhornung des englischen Ausdrucks Russia) bezeichnet wird. Wladimir Putin mutiert als ideologischer Nachfolger Hitlers zu „Putler“ oder zu „Chuilo“, was sehr salopp als „schmutziges Schwanzgesicht“ übersetzt werden kann. Der nicht sonderlich tiefsinnige Song „Putin Chuilo! La-la-la-laa-la, la-la-laaa“, was auf Ukrainisch und Russisch noch viel ordinärer klingt als in der deutschen Umschreibung, findet sich nicht nur auf YouTube, sondern wurde 2014 in der Ukraine oftmals öffentlich vorgetragen, vor allem auf Kundgebungen skandiert, auch in Gegenwart von Kindern.
Die meisten Russen, heißt es, seien von Natur aus Sklaven, Säufer und Proleten, Imperialisten mit Minderwertigkeitskomplexen, faul, verschlagen, ordinär, feige und außerdem keine echten Slawen, sondern russifizierte Finno-Ugren und Asiaten und somit keine „Brüder“. (Manchmal wird allerdings zwischen „Russe“ einerseits und „Moskal’“, „Kazap“ oder „Watnik“ andererseits differenziert. Die letzten drei Begriffe stehen, mit jeweils etwas anderer Nuancierung, für den primitiven russischen Imperialisten und Eroberer.) Das eigentliche Zentrum des Ostslawentum liege in der Ukraine, die – im Unterschied zu Russland – definitiv zu Europa gehöre. Das hinderte die selbsternannten Verteidiger westlicher Werte und Lebensstile nicht daran, die ukranischen Nazi-Kollaborateure und rechtsradikalen Nationalisten Stepan Bandera (1909-1959) und Roman Schuchewytsch (1907-1950), deren Anhänger Tausende von Polen und Juden ermordet hatten, zu Nationalhelden zu erklären und sie mit Denkmälern oder Abbildungen auf Briefmarken zu ehren, und der ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk behauptete erst vor wenigen Wochen in einem Interview, die Sowjetunion sei am Ende des Zweiten Weltkriegs gleichermaßen in die Ukraine wie in Deutschland „einmarschiert“, so als sei die Ukraine nie Teil der Sowjetunion gewesen und als hätte die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung das Ende der Besatzung und der NS-Vernichtungspolitik nicht als Befreiung erlebt. Dies führt dazu, dass im heutigen Russland der noch aus der Sowjetzeit stammende Ausdruck „Bandera-Anhänger“ zu den gängigsten Schimpfwörtern für pro-westlich eingestellte Ukrainer geworden ist, oft erweitert zum Ausdruck „jüdischer Bandera-Anhänger“, was etwa genauso bizarr klingt wie beispielsweise ein „Verein der jüdischen Freunde Heinrich Himmlers“.
Das alles ist nicht nur beschämend, schäbig und absurd, sondern vor allem schizophren. Jeder führt diesen Krieg auch mit und in sich selbst. Dass Menschen, von denen viele offenbar gebildet und nicht mehr ganz jung sind, ordinäre Schimpfwörter der übelsten Sorte verwenden, sexistische und homophobe Bemerkungen von sich geben, Andersdenkende als Löcher und Päderasten bezeichnen, den meist gleichgeschlechtlichen „Gesprächspartnern“ jedoch wenige Zeilen später sexuelle Gewalt androhen, verstärkt diesen Eindruck noch.
Es gibt wohl mehr Menschen ukrainischer Herkunft in Russland als Russen in der Ukraine. Wenn jemand mit einem ukrainischen Familiennamen behauptet, dass alle Ukrainer „von Natur aus“ Abschaum seien und nebenbei erwähnt, der eigene Großvater käme aus Czernowitz oder Winniza, weswegen er selbst gut wüsste, wovon er rede, dann braucht man kein ausgebildeter Psychologe zu sein, um auf Ausdrücke wie Schizophrenie und Selbsthass zu kommen.
„Meine Mutter ist Russin“, schreibt ein Mann in einem Forum. „Doch sie lebt in der Ukraine und ist nun zu einer ukrainischen Nationalistin geworden. Für sie ist Putin ein Faschist und Aggressor. Mein Vater hingegen ist Ukrainer, lebt aber schon seit Jahrzehnten in Russland und bezeichnet die Ukrainer seit einiger Zeit als Faschisten und amerikanische Vasallen.“
Was ich hier verkürzt und zugespitzt wiedergegeben habe, kommt in unterschiedlichsten Varianten, Facetten und Kombinationen vor. Selbstverständlich ist dies alles nicht repräsentativ, weil nur eine Minderheit in politischen Foren präsent ist, an Demonstrationen teilnimmt, gewalttätig gegen andere vorgeht oder gar freiwillig in den Krieg zieht. In Russland wie in der Ukraine möchte die Mehrheit der Bevölkerung in Frieden leben. Leider sind es aber gerade fanatisierte und stark mit ihnen sympathisierende Minderheiten, die, wenn sie einmal eine „kritische Masse“ erreichen, einen Konflikt wie jenen in der Ukraine erst möglich machen. Wäre die besagte Minderheit – wie in Ländern mit starken Zivilgesellschaften und langen demokratischen Traditionen – immer weit von einer kritischen Masse entfernt, hätte ein imperialistischer Kriegstreiber wie Wladimir Putin wahrscheinlich kaum eine Möglichkeit gehabt, den gegenwärtigen Konflikt zu initiieren und zu perpetuieren. Etwa 30.000 bewaffnete Separatisten könnten, unabhängig davon, ob es sich nun um Einheimische, Freiwillige aus Russland oder reguläre russische Truppen handelt, auf Dauer keine Region mit mehreren Millionen Einwohnern kontrollieren, wenn nicht eine ausreichende Zahl der Bevölkerung sie unterstützen würde.
Es gibt wenige Länder, die einander so ähnlich sind und (von Galizien und der Bukowina abgesehen) eine so lange gemeinsame historische und kulturelle Tradition haben wie Russland und die Ukraine. Knapp die Hälfte der Bevölkerung der Ukraine spricht Russisch als Muttersprache, die meisten anderen beherrschen oder verstehen es zumindest. Jene, die heute mit Waffen und Worten gegeneinander kämpfen, haben oft dieselben Bücher gelesen, dieselbe Musik gehört, dieselben Geschichten gehört und dieselben Familientraumata von ihren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern übernommen. Dieselben Zitate aus der klassischen russischen Literatur werden von beiden Seiten vereinnahmt und als Metapher für die derzeitige Krise ins Spiel gebracht, und zwar jeweils, um die eigenen Thesen zu stützen.
Mit diesem Krieg hat der russische Präsident die Büchse der Pandora geöffnet. Wie Gift schwappt nun die beiden betroffenen Ländern gemeinsame unaufgearbeitete Geschichte an die Oberfläche. Wut und Gewalt sind die Folge. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit Dikaturen, Kriegen, Hungersnöten und Völkermorden, mit Massenterror und einer „Kultur“ des Opportunismus und des Verrats, sind in praktisch allen Familiengeschichten präsent. Fast in jeder Familie zwischen Lemberg und Wladiwostok gab es sowohl Opfer als auch Täter, Ideologen, Mitläufer und Kollaborateure. Das kollektive Trauma führte bei vielen zu einer Verrohung, einem Zynismus und einer Menschenverachtung, die mit einem ausgeprägten, der Sowjetideologie und der Realität in einer Diktatur geschuldeten Schwarz-Weiß-Denken einherging, der Sehnsucht nach einer starken Obrigkeit, die alles richten soll, und der Vorstellung, nichts geschehe spontan oder aus Idealismus, sondern werde ohnehin von den Mächtigen dieser Welt geplant, die dabei ihre Interessen verfolgen, während ihnen alle anderen ohnmächtig ausgeliefert seien. Diese Mentalität ermöglichte in Russland, der Ukraine oder anderswo im postsowjetischen Raum jene korrupten Regime, in denen Oligarchen unermäßlich reich wurden, während die Mehrheit der Bevölkerung im schäbigen, von Armut und Verfall geprägten Alltag überleben musste. Dies war die Realität, welche die Menschen, die vor etwas über einem Jahr am „Euromaidan“ demonstrierten, zu verändern versuchten, etwas, was der imperialistisch denkende und um den autoritären Führungsstil im eigenen Land fürchtende Präsident des Nachbarlandes nicht zulassen wollte.
Was viele – in Russland und in der Ukraine – unterschätzen oder nicht erkennen, ist, dass Veränderung in erster Linie im Kopf passiert. Statt in sich zu gehen und mit Ernüchterung, Trauer und Scham zurückzuschauen, sich ehrlich und selbstkritisch der eigenen Geschichte und der Gegenwart zu stellen, um nach vorne schauen zu können, erscheint es den einen bequemer, von Russlands Größe, seiner Eigenart und Sendung in der Welt zu sprechen und den anderen „Ruhm der Ukraine, Ruhm den Helden, Tod den Feinden!“ zu skandieren und Menschen in Müllcontainer zu werfen, während gerade andere Menschen im Krieg umkommen. Die Verbitterung und die Traumata werden weitere Generationen prägen. In diesem Kontext scheint die Frage, wer gerade die Kleinstadt Debalzewo beherrscht, von eher marginaler Bedeutung zu sein.
© Vladimir Vertlib