Alles im Fluss

Niederträchtig oder verkommen ist Österreich nicht. Als Zuwanderer, der als Kind oder Jugendlicher in mehreren Ländern gelebt hat, glaube ich, das gut beurteilen zu können.
Impressionen eines gelernten Österreichers

Von Vladimir Vertlib

In: Die Presse, Spectrum, Samstag, 8. Juni 2019, S. IV.

Spannende Zeiten provozieren spannende Kommentare. Der von mir geschätzte Kollege Franzobel erklärte kürzlich in einem Interview für die deutsche taz: „Der Österreicher neigt zur selbstgerechten Niedertracht. […] Hier herrscht eine moralische Verkommenheit, die man in Deutschland so nicht kennt. Ich glaube, die Deutschen sind aufgrund ihrer Mentalität, ihres Protestantismus und ihres Umgangs mit der Geschichte integrer als wir. […]“ [1] Franzobel hat wahrscheinlich vergessen, dass die Hälfte Deutschlands katholisch geprägt ist, und auch sonst scheint er unser Nachbarland und seine Abgründe nur wenig zu kennen. Es lohnt aber nicht, darüber zu diskutieren, ob und inwieweit Deutsche genauso „niederträchtig“ seien wie wir Österreicher, oder ob protestantische Länder grundsätzlich weniger korrupt wären als katholische. Noch weniger sinnvoll wäre es, hier alle Skandale unseres Nachbarlandes der letzten Jahrzehnte anzuführen. Es sind einige… Wesentlicher als das ist, dass Franzobel im besagten Interview derart bekannte, weil immer wieder kolportierte Klischees über Österreich bedient, dass man sie als exemplarisch für eine bestimmte Haltung und beinahe schon als ein konstitutives Merkmal für das Selbstverständnis vieler Menschen in unserem Land bezeichnen kann. So meint Franzobel unter anderem auch, Österreich sei „näher am Balkan und an Südamerika“ als an Deutschland, und dass Bestechlichkeit eine menschliche Schwäche sei, die nur in wenigen Ländern eingedämmt werden konnte, Österreich zähle nicht dazu…

            Bestechlichkeit – eine unveränderbare österreichische Eigenschaft?

Während Franzobel vor allem die Rechten kritisiert, geht der von mir ebenfalls geschätzte Autor und Philosoph Konrad Paul Liessmann noch weiter. In einem in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen Artikel schreibt er, Bezug nehmend auf das Ibiza-Video: „Das Wasser wollten auch andere privatisieren, in der Kronen-Zeitung hat sich schon ein Unternehmer mit besten politischen Verbindungen eingekauft, und dass gute Kontakte zu russischen und zentralasiatischen Potentaten so manchem sozialdemokratischen Politiker über das Schlimmste hinweggeholfen haben, wissen wir.“ [2]

„So sind wir nicht“, betonte Bundespräsident Van der Bellen in seiner ersten öffentlichen Stellungnahme nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos schockiert. Wie ist dieser Satz zu verstehen?

Die elegante Verfassung

Die entstandene Regierungskrise, erklärte Van der Bellen, sei keine Staatskrise. Unsere Verfassung sei „elegant“ und biete, einer Gebrauchsanweisung gleich, die Anleitung zur Meisterung jeglicher Eventualitäten. Dieses, auch in seinen späteren Stellungnahmen und immer wieder beinahe wie eine Beschwörung klingendes Lob der Verfassung war insofern bemerkenswert, als bis dahin wohl kaum jemand eine emotionale Beziehung zur österreichischen Bundesverfassung gehabt hatte. Während für viele Deutsche ihr „Grundgesetz“ und für Amerikaner ihre „US-Constitution“ zu einem entscheidenden Bestandteil ihrer nationalen Identität gehören, wusste die Mehrheit der österreichischen Staatsbürger vor der Krise wahrscheinlich nicht einmal, seit wann die Verfassung überhaupt in Kraft ist und welche Aufgaben und Kompetenzen der Bundespräsident tatsächlich besitzt. Wenn diese Krise etwas nachhaltig Positives hat, das unbestritten ist, dann ist es die Stärkung des Österreichbewusstseins über die Identifikation mit der Verfassung und den Organen dieser Republik.

Die österreichische Nation im Sinne eines Bekenntnisses zum Staat in den heutigen Grenzen ist relativ jung. Es war ja kein Zufall, dass sich die 1918 gegründete Republik „Deutsch-Österreich“ nannte, und dass 1938 die Mehrheit den Anschluss an Nazi-Deutschland befürwortete. Unsere Geschichte besitzt kein dominantes positives Narrativ, das alle, ob Migranten oder Einheimische, ob Burgenländer oder Vorarlberger, vereinen könnte. Es gab bei uns keine erfolgreichen Revolutionen wie in Frankreich oder den USA, keine republikanische Idee mit einigender Wirkung, keine gewonnenen Kriege oder Überwindung des Totalitarismus aus eigener Kraft. Könnte die Bundesverfassung – wenigstens ansatzweise – diese einigende Rolle übernehmen? Vor gar nicht langer Zeit wären vielen in erster Linie die Lipizzaner und die Mozartkugeln als positive österreichische Identifikationsmerkmale eingefallen. Sogar ein Bundeskanzler hat diesen Umstand einmal kritisch vermerkt, wofür er sogleich scharf angegriffen wurde. Unsere Lipizzaner und Mozartkugeln lassen wir uns nicht madig machen. Wird nun die Verfassung ebenfalls in den Club der Heiligtümer aufgenommen?

            Österreich ist ein Land der Ambivalenzen, der Widersprüche und der bizarren Abgründe, so wie übrigens jedes andere Land auch. Niederträchtig oder verkommen ist es jedenfalls nicht. Als Zuwanderer, der als Kind und Jugendlicher in mehreren Ländern gelebt hat und in einigen Kulturen zu Hause ist, glaube ich, das gut beurteilen zu können. Als gelernter Österreicher habe ich auf Österreich sowohl einen Innen- wie einen Außenblick; ich bin betroffen und habe doch, wenn es sein muss, Distanz.

Österreich ist eines der reichsten Länder der Welt, die Arbeitslosenrate ist niedrig, das Sozialsystem ist besser als beim deutschen Nachbarn, die Kriminalitätsrate eine der niedrigsten in Europa, das – noch nicht privatisierte – Wasser besser als anderenorts. Bei der Lektüre des eingangs zitierten Franzobel-Interviews könnte man hingegen meinen, er spreche nicht über Österreich, sondern über die Ukraine oder Montenegro. Trotzdem ist das, was er behauptet, nicht ganz falsch. Zweifellos ist Österreich ein Land, in dem Bestechlichkeit, illegale Absprachen, Parteibuchwirtschaft, Proporz, Steuerbetrug und Nepotismus zur Tradition gehören.

Seit 1945 ist Österreich ein Land des Kompromisses und des Ausgleichs. Dies war in den letzten beiden Jahrzehnten zwar nicht mehr so offensichtlich wie früher, doch das Prinzip ist dasselbe geblieben. Die Korruption ist umfassend, aber im Unterschied zu vielen anderen Ländern nicht in allen Lebensbereichen spürbar. Unsere Korruption ist „sanft“. Ich muss einem Polizisten keinen Hundert-Euro-Schein geben, damit er mich an einer Straßensperre weiterfahren lässt, oder einem Beamten ein Kuvert mit einer „Spende“ auf den Tisch legen, damit er mein Anliegen überhaupt zur Kenntnis nimmt. Die kleinen Dinge des Alltags tangiert unsere Korruption nur selten, sodass man sich mit etwas Glück der Illusion hingeben kann, in einer Gesellschaft zu leben, die so sauber ist wie das Wasser, das man täglich trinkt. Die Korruption kommt – wie überall – den Privilegierten auf Kosten der weniger Privilegierten zugute, bedeutet also eine Umverteilung von unten nach oben, aber sie lässt den Ausgebeuteten genug, um sie nicht über die Maßen zu verärgern und bietet ihnen einiges an. Das ist der „Deal“, der dem Land jahrzehntelang Frieden und Wohlstand beschert hat. Schließlich haben wir aus der Geschichte gelernt, wissen dass Bürgerkrieg und Diktatur alle zu Verlierern macht, und dass sich jede Gaunerei ab einer gewissen Größenordnung nicht mehr rentiert. Österreich ist kein Balkan-Land, wie Franzobel behauptet. Wäre dies der Fall, ginge es bei uns viel derber zu. Nein, Österreich ist ein hypermoderner, westlicher Industriestaat mit einer Top-Performance in fast allen Bereichen, mit einer Bevölkerung jedoch, die wohl den Terror der Gegenreformation vor 400 Jahren seelisch immer noch nicht ganz überwunden hat und deshalb insgeheim in einer Mischung aus Angst, Demut, Masochismus, lustvollem Pessimismus und zynischer Resignation den Obrigkeitsstaat simuliert, den sie eigentlich längst überwunden haben könnte und nur mehr abzustreifen bräuchte, wenn sie stolz und mutig genug wäre, sich aufzurichten.

Die sanfte Korruption ist in Österreich jahrzehntelang ein Besänftigungsmittel und ein Motor gewesen, ein Faktor, der den Ehrgeiz anstachelt und diszipliniert, der oft wütend macht und noch öfter zur Demut zwingt. Sie bietet relative Sicherheit und einen hohen Grad an Vorhersehbarkeit, wenn man „das Richtige“ tut. Der sanften Korruption ist man selten ohnmächtig ausgeliefert; meist gibt es einen Ausweg, ein Schlupfloch, die typische Ausnahme von der Regel; dies alles erfolgt durch ein System von Geben und Nehmen, von Loyalitäten und Abhängigkeiten, es zwingt die Akteure dazu, sich als Teil einer Seilschaft zu verstehen, was einerseits Sicherheit gibt, es aber andererseits stets notwendig macht, das eigene Verhalten mit Gleichgesinnten und Gegnern abzustimmen.

Straches und Gudenus‘ schneller Sturz war darauf zurückzuführen, dass sie ihre Ibiza-Aktion wahrscheinlich nicht mit anderen Spitzenfunktionären der eigenen Partei besprochen hatten (sonst wären sie von klügeren und weitsichtigeren Kollegen rechtzeitig gewarnt worden), und dass sie zu gierig waren. Das österreichische System ist nicht auf riskante Alleingänge ausgerichtet. Dies scheint sich wesentlich auf die Mentalität auszuwirken.

Wenn es zu Einzelaktionen mit hohem Einsatz kommt, gehen sie in den meisten Fällen aus Unvermögen oder schlichtweg aus Dummheit schief. Dies gilt im besonderen Maße für die Politik. Dass zudem mit Rechtspopulisten kein Staat zu machen ist, wissen wir schon lange. Wer wie die FPÖ das subtile Gleichgewicht zwischen Ehrlichkeit und Infamie, zwischen Schäbigkeit und Handschlagqualität, Unterordnung und Selbstsucht durch Gier und Unvermögen zerstört, der scheitert. Auf dem Balkan, in Russland oder Südamerika wäre auch dieses „Problem“ mit Bestechung oder mit Gewalt zu lösen gewesen. Aber Österreich ist trotz allem ein westliches Land – vielleicht nur zu Dreiviertel, aber immerhin…

Was werden die bleibenden Folgen der gegenwärtigen politischen Krise sein? Es ist die tröstliche Gewissheit, dass realistische Unmöglichkeiten manchmal wirklich passieren können.

Die Sehnsucht nach Veränderung

In gewisser Weise erinnert alles, was wir seit Mitte Mai in Österreich erlebt haben, an einen hohen Gewinn in der Lotterie. Menschen, die regelmäßig spielen, wissen, dass es zwar nie ausgeschlossen ist, den Hauptgewinn zu machen, die Wahrscheinlichkeit aber so gering ist, dass man zwar sehnsüchtig davon träumen darf, sich jedoch nie ernsthaft dieser Hoffnung hingeben soll, auf dass man nicht ständig enttäuscht und frustriert wird. Jahrzehntelang hat ein großer Teil der österreichischen Bevölkerung mit der Sehnsucht gelebt, es möge sich im politischen Leben ihres Landes etwas fundamental ändern, aber nie daran geglaubt, dass dieser Fall im realen Leben jemals wirklich eintreten würde. Man hat sich beschwert und gejammert, die Verkommenheit der politischen Klasse beklagt, um dann doch – von wenigen Ausnahmen abgesehen – wieder die alten Politiker zu wählen. Auch der jüngste Bundeskanzler der 2. Republik, Sebastian Kurz, ist ein typisches Produkt des österreichischen Systems, welches er im wesentlichen weitergeführt hat. Jetzt allerdings besteht die einmalige Chance, reale und nachhaltige Veränderungen einzufordern. Die politische Elite ist angeschlagen, alles ist in Fluss, und was nach den Wahlen kommt, ist so unvorhersehbar wie selten zuvor. Es wird sich zeigen, ob das Land diese Chance nutzen wird oder sich ängstlich auf die altbewährten, „sanften“ Strukturen zurückzieht. Beides ist möglich.

In: Die Presse, Spectrum, Samstag, 8. Juni 2019, S. IV.

(c) Vladimir Vertlib


[1] Franzobel über Ibizagate: „Der Österreicher neigt zur Niedertracht“, taz, 25.05.2019

[2] Konrad Paul Liessmann: „Nach „Ibiza“ paar sich die Häme der Kritiker mit Heuchelei“, NZZ, 28.05.2019

Comments
One Response to “Alles im Fluss”
  1. Wolfgang Rueckner sagt:

    Alles im Fluss – ein vortrefflicher Seitenhieb auf Franzobel und Liessmann.

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