Wie der Hass uns schwächt

Vladimir Vertlib: Die Russophobie ist bei uns angekommen

In: Die Presse, Wien, Spectrum, 30. Juli 2022

Ressentiments und Vorurteile gegenüber Russen und russischen Künstlern sind allgegenwärtig. Autor Vladimir Vertlib, der selbst russische Wurzeln hat, richtet seine Aufmerksamkeit auf das Verbindende anstatt das Trennende. Er will sich die Freiheit der Kunst und Kultur nicht nehmen oder verbieten lassen.

Als ich ein Kind war, wussten andere immer besser als ich, wer ich war. Die Eltern erklärten mir eines Tages, ich sei Jude. Dabei wollte ich Leningrader sein, weil ich in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren wurde. Meine Eltern lachten. Man könne Jude und Leningrader sein, das sei kein Widerspruch, und zwar auch dann nicht, wenn man in Wien lebe, meinten sie. Als Österreicher oder Wiener empfand ich mich damals nicht, obwohl ich zweifellos in der Brigittenau zu Hause war. Teile dieses Wiener Bezirks sowie der angrenzenden Leopoldstadt sind bis heute wohl der einzige Ort auf der Welt geblieben, dem ich mich ohne Wenn und Aber zugehörig fühle.

Der ambivalente Identitätswirrwarr war bald genauso Teil meines Selbst wie akzentfreies Deutsch sowie die falsche Aussprache meines Vornamens, die ich akzeptierte und schließlich sogar selbst übernahm. Für meine österreichischen Mitschüler und Lehrer war die Sache hingegen klar: Ich war ein typischer Russe! Warum ich „typisch“ war, verstand ich nicht, denn wann immer meine Mitschüler oder Lehrer etwas als „typisch russisch“ bezeichneten, hieß es sogleich, ich selbst sei damit „natürlich“ nicht gemeint. Die Brigittenau, wo ich sowohl in die Volksschule als auch später ins Gymnasium ging, war nach dem Krieg Teil der sowjetischen Besatzungszone Wiens gewesen; die Erinnerung an jene Zeit war vor knapp fünfzig Jahren, als ich in die Schule kam, noch frisch. Die „Russen“ seien brutal und kulturlos gewesen, sie hätten Wasser aus Klomuscheln getrunken, Glühbirnen in Fassungen geschraubt, die an kein Stromkabel angeschlossen waren, und sich gewundert, warum sie nicht leuchten, massenweise Frauen vergewaltigt, gestohlen, geraubt und einfach nur sinnlos – aus Wut und Rache – gemordet und zerstört. Russen seien gefühlsbetont, hieß es. Manchmal seien sie wie Kinder – herzlich, naiv und hilfsbereit – dann aber wieder brutal und unberechenbar wie wilde Tiere. Sie seien nun einmal Seelenmenschen, in negativer, aber auch in positiver Hinsicht. Letzteres wurde auch mir zugestanden. Wenn meine Aufsätze oder Wortmeldungen emotional ausfielen, führte man dies auf meine „russische Seele“ zurück und glaubte, mir damit ein Kompliment zu machen. Mich hingegen berührten solche Zuschreibungen stets unangenehm, denn ich wusste schon im Volksschulalter, dass Juden und Russen nicht dasselbe waren. Kein Russe, erklärten mir meine Eltern, würde mich jemals als seinesgleichen akzeptieren. In der ehemaligen Sowjetunion waren die Ethnien, zu denen auch Juden gezählt wurden, klar getrennt. Meine angebliche „russische Seele“ war also nicht nur peinlich, sondern auch anmaßend. Mir wurde etwas zugeeignet, was mir aufgrund meiner Abstammung gar nicht zustand.

Ein knappes halbes Jahrhundert später erwähnt die in Kiew lebende ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko in einem Artikel die Verbrechen der Roten Armee in Deutschland des Jahres 1945, zieht Parallelen zu den Verbrechen russischer Soldaten in der Ukraine und beschwert sich über eine deutsche Freundin, die „wie alle Deutschen [sic!] gegenüber Russland Schuldgefühle hat und für deren Verbrechen im Europa des Jahres 1945 – wenn nicht eine Rechtfertigung, so doch eine Erklärung findet, frei nach der Logik «wie du mir, so ich dir»“. Frau Sabuschko irrt: Bei weitem nicht alle Deutschen (und Österreicher) haben Schuldgefühle Russland gegenüber, und wenn sie diese hatten, kommt vielen von ihnen Russlands Angriffs- und Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine sehr gelegen, um das Schuldgefühl endlich ungestraft gegen das bislang beschämt verborgene Ressentiment einzutauschen. „Die Russen“ – Vergewaltiger, Mörder und Banditen. Relativiert das nicht ein wenig die Verbrechen der eigenen Großväter, die einst in Russland wie auch in der Ukraine und anderswo gleichermaßen gewütet hatten? Längst geht es nicht mehr um eine wildgewordene Soldateska, die ein Terrorregime in einen schmutzigen Krieg geschickt hat, sondern um den „Volkscharakter“, das Russische an sich, das Typische. Putins Eroberungsfeldzug und der Verteidigungskrieg der Ukraine gegen diese Aggression werden von Anfang an auch als brutale Kulturkämpfe geführt, und große Teile der westlichen Gesellschaften machen dabei bereitwillig mit.

Für jemanden wie mich ist das ein bitteres und kränkendes Déjà-Vu-Erlebnis, aber natürlich bin ich auch diesmal nicht gemeint. Mit meiner jüdischen Herkunft, meinen Wurzeln in Belarus und einigen aus der Ukraine stammenden Verwandten bin ich auch für andere nicht mehr so leicht zuordenbar.

„Der Russe“ solle bekommen, was er verdient, liest man in den sozialen Netzwerken, aber auch in scheinbar seriösen Zeitungsartikeln. Russland solle ein für allemal das Rückgrat gebrochen werden, hört man an Stammtischen, aber auch auf Podiumsdiskussionen. Was noch vor kurzem (und sicher bald wieder) „der“ Islam war, ist nun „der“ Russe. Er sei heute nicht besser als 1945, die Ukrainer würden es ihm aber schon zeigen, heißt es … Dass die Ukrainer 1945 die zweitgrößte ethnische Gruppe innerhalb der Roten Armee stellten und genauso Kriegsverbrechen in Deutschland und Österreich begingen wie ihre russischen Kameraden, spielt bei all diesen absurden historischen Analogien offenbar keine Rolle. Ich warte darauf, dass jemand behauptet, die Ukrainer von damals seien nicht die Ukrainer von heute, die heutigen Russen würden sich aber von ihren Groß- und Urgroßeltern nur wenig unterscheiden. Doch Argumente dieser Art wären schon beinahe raffiniert, und die Mühen der Raffinesse tut sich kaum jemand an. In Zeiten der Angst und der Krise stolpert man selten über Details; man überspringt sie einfach.

In Österreich meiner Kindheit und Jugend kam ohnehin niemand auf die Idee, zwischen Ukrainern und Russen zu unterscheiden. Die einstige sowjetische Besatzungszone wurde von allen als „Russische Zone“ bezeichnet. Östlich von Ungarn lag Russland, das bis nach Tiflis, Baku und Taschkent reichte. Wer von den heutigen Russlandhassern und frisch gebackenen Patrioten der Ukraine hierzulande hätte vor einem halben Jahr auch nur einen einzigen ukrainischen Dichter, Musiker oder Maler nennen können? Und wie viele von ihnen haben das Wort „Ukraine“ noch vor zehn Jahren ausschließlich mit Prostitution, Verbrechen und bitterer Armut in Verbindung gebracht? Heute erschafft man sich ein eigenes Bild der Menschen dieses Landes – als tapfere Helden, aufopfernde Mütter und stolze Demokraten. Doch wehe, wenn sie einmal aus der ihnen zugedachten Rolle fallen. Wie schnell wird aus Bewunderung Enttäuschung, aus Unterstützung Gleichgültigkeit und aus Dankbarkeit Verdruss.

Den Menschen in der Ukraine kann man schwer den Vorwurf machen, dass viele von ihnen mit allem Russischem, einschließlich der russischen Kultur, nichts mehr zu tun haben wollen. Es mag absurd und verstörend erscheinen, dass in Regionen der Ukraine, in denen mehrheitlich Russisch gesprochen wird, mehr als hundert Jahre alte Denkmäler des klassischen russischen Dichters Alexander Puschkin (1799-1837) abgetragen werden, dass Plätze, die nach Leo Tolstoi benannt waren, nun andere Bezeichnungen bekommen und ukrainische Bibliotheken keine Bücher auf Russisch mehr anschaffen wollen. Alexander Puschkin, der einen äthiopischen Großvater hatte, war sicher kein Rassist, hatte nie etwas gegen die Ukraine und war zweifellos kein ideologischer Wegbereiter des Putin-Regimes. Letzteres könnte man allenfalls dem russischen Chauvinisten und Antisemiten Dostojewskij oder dem Ukraine-Hasser Joseph Brodskij, Literaturnobelpreisträger von 1987, vorwerfen. Oksana Sabuschko stellt jedoch eine direkte Verbindung von Tolstojs Romanen zu den Massakern von Butscha her – eine Behauptung so monströs und aberwitzig, wie der Krieg selbst, der solche Gedankengänge ja erst möglich macht. Faktum ist allerdings, dass die russische Kultur vom Putin-Regime pathetisch überhöht und zu Propaganda-Zwecken missbraucht wird, während Ukrainern eine eigene nationale und kulturelle Identität abgesprochen wird. Verständlich, dass viele Ukrainer keine Puschkin-Denkmäler mehr auf den Hauptplätzen ihrer Städte sehen wollen, und diese nun genauso verschwinden, wie vor einigen Jahren jene von Lenin oder Marx. Dass ändert nichts daran, dass viele Ukrainer auch in Zeiten des Krieges, in Luftschutzkellern oder an der Front, weiterhin russische Musik hören, russischen Bloggern zuhören und russische Literatur lesen. Auf dem Foto der Ruine eines von russischen Raketen zerstörten Hauses in der Ostukraine konnte ich ein halbzerfetztes, blutverschmiertes Buch erkennen, auf dessen Umschlag deutlich Fjodor Dostojewskij: „Schuld und Sühne“ zu lesen war.

Die Russophobie ist längst bei uns in Mittel- und Westeuropa angekommen – eine verstörende, beängstigende Entwicklung. Ein Verhalten, das bei Menschen in der Ukraine, die Krieg und Terror erleben müssen, nachvollziehbar ist, darf weitab des Kriegsgeschehens, der unmittelbaren Betroffenheit und der damit verbundenen Traumata weder bagatellisiert noch entschuldigt werden. Doch russische Kultur ist jetzt in vielen Ländern Europas oftmals unerwünscht. Russische Künstlerinnen und Künstler werden von Festivals und Veranstaltungen ausgeladen oder dürfen aufgrund ihrer Herkunft nicht an Wettbewerben teilnehmen. Das war und ist zwar nicht die Regel, kam aber vor allem zu Beginn des Krieges regelmäßig vor. Hin und wieder gibt es Anfeindungen gegen Menschen, die als Russen angesehen oder identifiziert werden. Ich selbst bin dazu übergegangen, russische Bücher, die ich in Zügen, auf Parkbänken oder in Kaffeehäusern lese, in die Umschläge von deutschen oder englischen Büchern zu stecken oder in Papier einzubinden.

Ressentiments, einmal aktiviert, bleiben lange bestehen und können nur sehr schwer überwunden werden; ukrainische Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind, wollen mit Russen, die hier leben, meist nichts zu tun haben – auch mit jenen nicht, die sich offen gegen Putins Gewaltherrschaft aussprechen und bereit wären, ukrainischen Flüchtlingen zu helfen.

Nach alledem stellt sich die Frage, wofür wir eigentlich kämpfen. „Wir“ – das ist die freie westliche Welt, die von der Ukraine nach Eigendefinition verteidigt wird, auf dass sie von Putins Truppen nicht überrannt werde. Es handelt sich um jene freie Welt, die in diesem Krieg zurecht direkt oder indirekt auf Seiten der Ukraine steht und diese, wenn nicht mit eigenen Soldaten, so doch politisch, ökonomisch oder militärisch unterstützt. Dazu gehören die USA genauso wie Großbritannien, Schweden, Polen oder das formal immer noch neutrale Österreich.

Aufmerksame Beobachter haben längst erkannt, dass es sich bei Putins Angriffs- und Vernichtungsfeldzug in erster Linie um einen ideologischen Krieg handelt. Eine demokratische Ukraine ist für das autoritäre russische Regime eine Bedrohung, und das nicht etwa, weil die Menschen dort anders, sondern weil sie jenen in Russland so ähnlich sind. Gerade russischsprachige Menschen sind in der Ukraine nicht nur das primäre Ziel der Angriffe und der Eroberungen, sondern auch der Repressalien und des Terrors gegen die Zivilbevölkerung. Auf keinem Fall sollen russischsprachige Ukrainer für Menschen in der Russischen Föderation eine Vorbildwirkung haben. Im widrigsten Fall sollen alle erkennen, welche Folgen das Abschütteln alter sowjetischer Denk- und Verhaltensmuster und der Wunsch nach Freiheit für die Betroffenen hat. Deshalb wird der Krieg derart unerbittlich geführt, deshalb ist der ukrainische Widerstand so konsequent und kompromisslos, und deshalb sollten auch „wir“ niemals vergessen, dass es in diesem Krieg um die Verteidigung von Freiheit, Demokratie und Wahrheit gegen Diktatur, Chauvinismus und Lüge geht. Das heißt aber – nicht auf das Niveau des Gegners abzusinken und seine Methoden mit umgekehrten Vorzeichen zu übernehmen. Das Putin-Regime behauptet, die Ukraine sei ein Nazi-Land; wir aber dürfen nicht behaupten, Russland sei ein Land von Faschisten und Verbrechern – es gibt viele Russen, die gegen das Regime sind oder schlichtweg nicht wissen, was in der Ukraine wirklich passiert. Putins Propagandaapparat verkündet, die Ukrainer seien kein eigenständiges Volk, deren Kultur sei minderwertig oder nichts weiter als eine Facette russischer Volkskultur; wir aber dürfen nicht im Gegenzug die russische Kultur stigmatisieren oder auslöschen. Und wir müssen Druck auf die Ukraine ausüben, damit dort jene Werte, die militärisch verteidigt werden, auch wirklich gelebt werden. Dazu gehören – auch in Kriegszeiten – mehr Rechtssicherheit, eine konsequentere Bekämpfung der Korruption, eine freiere Presse, mehr Differenziertheit und weniger Pathos. Welches Signal gäben wir denn sonst der eigenen Bevölkerung in Europa, die wir jetzt schon auf eine sich verschärfende Energiekrise und damit verbundene Entbehrungen einstimmen? Und vor allem: Was würden wir jenen vielen russischen Oppositionellen, Intellektuellen, Künstlern, Journalisten und Bloggern vermitteln, die gegen Putins Regime kämpfen, in Lager gesperrt werden oder ins Exil fliehen müssen? Das sind die Menschen, mit denen „wir“ in Zukunft zusammenarbeiten, die dereinst, wenn das autoritäre Regime gestürzt sein wird oder sich aufgelöst hat, unsere Partner sein werden. Ist es sinnvoll und zielführend, ihnen zu vermitteln, dass sie ein Volk von primitiven Verbrechern sind, dass die Kultur ihres Landes verwerflich ist und aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden sollte? Nützt Letzteres nicht eher dem Putin-Regime und seiner Propaganda, die seit Längerem immer wieder behauptet, finstere Mächte des Westens hätten sich gegen Russland verschworen und wollten es vernichten?

Ich selbst jedenfalls werde weiterhin russische Klassiker lesen und zitieren, mich auf russische Humanisten berufen und andere Menschen auf die Qualität russischer Lyrik oder Musik hinweisen. Ich habe keine Lust, die russische Sprache und Kultur, die auch meine sind, dem Putin-Regime zu überlassen, auch wenn viele Russlandhasser in meinem Umfeld diesen Schritt längst schon vollzogen haben.

© Vladimir Vertlib

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

  • Hier klicken und Sie werden über aktuelle Einträge auf dieser Seite per E-Mailverständigt.

%d Bloggern gefällt das: