Der Jude Selenskyj und der Faschist Stepan Bandera
28.05.2022 um 09:57, „Die Presse“, Wien, „Spectrum“, S. 1 und 2
von Vladimir Vertlib
Manchmal muss ich daran denken, dass in der NS-Besatzungszeit meine jüdischen Verwandten von ihren ukrainischen Nachbarn zusammengetrieben, erschlagen und in eine Grube geworfen worden sind. Doch die Ukraine ist heute mit Selenskij ein anderes Land als vor fünfzig, achtzig oder hundert Jahren.
Mein Vater, der einen Hang zur pointierten Phrase hatte, charakterisierte die Ukrainer einmal folgendermaßen: „Sie sind wie die Russen, nur verbissener, konsequenter und viel böser, wenn sie einmal böse werden.“ Nach seiner Vorstellung verkörperten die Ukrainer sowohl die wesentlichen Eigenschaften von Russen als auch wichtige Attribute von Westeuropäern. Die vielen Jahrhunderte, in denen ihr Land ein Teil Polens, Litauens oder Österreichs gewesen war, hätten die Ukraine genauso geprägt wie die Zugehörigkeit zum Russischen Reich und zur Sowjetunion.
Diese „ostwestliche Mentalitätsmischung“ bezog mein Vater natürlich auch auf den Antisemitismus. Der Antisemitismus sei in Russland und der Ukraine gleichermaßen ausgeprägt, meinte er, in seiner Umsetzung seien die Ukrainer jedoch konsequenter. Die zahlreichen von ukrainischen Nationalisten verbrochenen Judenpogrome – vom wichtigsten ukrainischen Nationalhelden Bogdan Chmelnyzkyj im 17. Jahrhundert, der beinahe die gesamte jüdische Bevölkerung des Landes ausrotten ließ, bis Stepan Bandera, dessen faschistische „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) mit den Nazis kollaborierte – würden dies beweisen.
Mein Vater liebte Verallgemeinerungen, hatte aber keine so ausgeprägten anti-ukrainischen Ressentiments wie viele andere in Russland lebenden oder aus Russland stammende Menschen. Die heutige Ukraine für ein „Nazi-Land“ zu halten wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Russische Kosaken am Don, die Bewohner des Nordkaukasus, der Gegend um Kursk, Smolensk oder des Baltikums hatten genauso mit den Nazis kollaboriert – eine Minderheit, während die überwiegende Mehrheit, ob in der Ukraine, in Belarus oder in den von den Nazis besetzten Teilen Russlands, sich passiv verhalten oder Widerstand geleistet hatte.
Die Klischees, an die mein Vater glaubte, spiegeln gängige Vorstellungen wider, die weit in die Zeit vor Putins Krieg und seine anti-ukrainische Propaganda zurückreichen. Diese Klischees waren widersprüchlich, oftmals aberwitzig, manches hatte einen wahren Kern. Schon lange vor 2014 assoziierten viele Menschen in Russland mit der Ukraine neben Positivem und Folkloristischem – dazu gehörten traurige Volkslieder, Bilder der weiten Steppe und von Sonnenblumen bis an den Horizont, die Sehnsucht nach Sinnlichkeit und den warmen Nächten des Südens – auch die Kollaboration mit den Nationalsozialisten, den Antisemitismus oder die faschistischen Bandera-Anhänger, die 1941 in Lemberg Juden, Polen und Russen massakriert, 1943 in Wolhynien Zehntausende Polen ermordet, zeitweise für die deutschen Besatzer gekämpft und noch bis in die beginnenden 1950er-Jahre einen Partisanenkrieg gegen die sowjetischen Machthaber geführt hatten.
Dass KZ-Wachmannschaften in deutschen Vernichtungslagern oftmals aus Ukrainern bestanden hatten, war genauso bekannt wie die apologetische und verharmlosende Historiographie in der modernen Ukraine, die Leute wie Bandera zu Helden stilisiert. Offensichtlich hatte die neuere ukrainische Geschichte keine anderen „Helden“ von vergleichbarem Format vorzuweisen, die für die Unabhängigkeit des Landes gekämpft hätten. Wenn der Jude Wolodymyr Selenskyj jedoch in absehbarer Zeit dem Faschisten Stepan Bandera den Rang als ukrainischer Nationalheld streitig machen wird, was durchaus wahrscheinlich ist, wäre Putins „Denazifizierung der Ukraine“ tatsächlich sehr erfolgreich gewesen, wenn auch ganz anders, als er es geplant hatte …
Die Ukraine ist heute ein anderes Land als vor fünfzig, achtzig oder hundert Jahren. Die Emotionen, die es gerade bei jüdischen Menschen, aber nicht nur bei diesen, in Russland oder anderswo auslöst, sind jedoch oftmals nachhaltiger als die rasante Veränderung, die das Land erlebt. Gefühle haben meist einen konservativen Kern. Meinungen ändern sich, Gefühle bleiben. Auch ich muss daran denken, dass einige meiner Verwandten zusammen mit anderen Juden des kleinen Ortes südlich von Kiew, der ihre Heimat war, während der NS-Besatzungszeit von ihren ukrainischen Nachbarn zusammengetrieben, erschlagen, in eine Grube geworfen und zugeschaufelt wurden. Als die Erde sich zu bewegen begann, weil noch nicht alle tot waren, wurde ein deutscher Panzer geholt, der sich am Ort des Verbrechens so lange um die eigene Achse drehte, bis keines der Opfer mehr am Leben sein konnte. Natürlich tragen die Nachkommen der Täter von einst keinerlei Schuld für die Verbrechen ihre Großeltern und Urgroßeltern. Wenn ich aber das Bild von Stepan Bandera auf ukrainischen Briefmarken sehe oder weiß, dass ihm und anderen Massenmördern in der Ukraine Denkmäler aufgestellt werden, bin ich nicht nur unangenehm berührt, sondern erlebe das als schwere persönliche Kränkung. Ich weiß allerdings auch, dass weder die Verehrung längst verstorbener Faschisten noch die Aufmärsche der vergleichsweise wenigen Rechtsradikalen von heute repräsentativ für die moderne Ukraine sind.
Viele Menschen in Russland wissen das nicht oder wollen es nicht wahrhaben, weil die überkommenen Feindbilder, an denen sie festhalten, längst zu einem Teil ihres eigenen Selbstverständnisses geworden sind. Ich schätze, die Nachkommen der Massaker von Butscha oder Mariupol werden im Jahre 2100 (wenn die Menschheit bis dahin nicht einem Atomkrieg oder der Klimakrise zum Opfer gefallen ist) gleichermaßen unangenehm berührt sein, wenn sie das Konterfei von Wladimir Putin auf einer russischen Briefmarke oder auf einem Geldschein der russischen Föderation sehen oder gar irgendwo an einem Denkmal, der zu Ehre der russischen Truppen im Ukraine-Krieg aufgestellt werden wird, vorbeigehen müssen. Das wird hoffentlich nie passieren, ausschließen kann man es jedoch nicht.
Dass Russen, die heute die Ukraine als „Nazi-Land“ sehen, sich selbst als Antifaschisten verstehen und – sei es als Sofahelden vor dem Computer, als professionelle Propagandisten und Hetzer in den Medien oder als Armeeangehörige – in den Kampf gegen ihr Nachbarland ziehen, deshalb nicht automatisch judenfreundlich sind, ist nicht überraschend. Dafür gibt es genügend historische Parallelen. Bekanntermaßen hatten viele Unionssoldaten während des amerikanischen Bürgerkriegs, die für die Abschaffung der Sklaverei und den Erhalt der Union kämpften, ähnliche rassistische Ansichten wie ihre Gegner im Süden: Es war zwar „unchristlich“, Menschen als Sklaven zu halten, die aus der Sklaverei Befreiten sollten aber ihren Platz in der Gesellschaft kennen, stets dankbar und nicht allzu aufmüpfig sein.
Nicht erst seit Lawrow
Die Behauptung, dass Juden selbst am Antisemitismus schuld sind, ja sogar, dass Hitler jüdischer Herkunft gewesen sei, hat nicht der russische Außenminister Lawrow als Erster aufgestellt. Dass Zionisten mit den Nazis zusammengearbeitet haben, um die Gründung Israels zu beschleunigen, ist ein altes sowjetisches Narrativ. Es stammt aus der Zeit des Kalten Krieges, als das mit den USA verbündete Israel als Feind der Sowjetunion galt und die Juden im eigenen Land als vaterlandslose Gesellen und als fünfte Kolonne angesehen wurden. Damals wurde der Ausdruck „Zionisten“ als Code für Juden im Allgemeinen verwendet. In dieses Narrativ, welches noch unter Stalin entstanden war, in arabischen Ländern bereitwillig aufgegriffen wurde und dort bis heute gepflegt wird, fügt sich in den Augen nationalistischer Russen Präsident Wolodymyr Selenskyj als Führer eines „Nazi-Landes“ ideal ein. Nazis – Zionisten – Jüdische Weltverschwörung – NATO – USA. Diese Versatzstücke einer diffusen Weltanschauung auf schlüpfrigem Fundament sind genauso bizarr wie altbacken und abgedroschen.
Wer sich trotzdem noch darüber wundert, warum die offizielle russische Propaganda einen Staat mit einem jüdischen Präsidenten als „Nazi-Land“ bezeichnet, ohne dass die Mehrheit der eigenen Bevölkerung eine solche Behauptung als widersprüchlich und absurd empfindet, darf nicht vergessen, dass die Entwicklung der russischen Zivilgesellschaft der unseren in Mitteleuropa etwa ein halbes Jahrhundert hinterherhinkt.
Dieser Umstand prägt die Mentalität und das Selbstverständnis, mit dem man sich und andere, das eigene Land und fremde Länder sieht. Die Vorstellung von einem „antisemitischen Juden“, der sich in den Dienst von Faschisten stellt, gehört hierbei genauso dazu wie einst in den USA jene des „rassistischen Schwarzen“, der treu seinen weißen Herren dient, oder von mächtigen Frauen, die Trägerinnen patriarchaler Verhältnisse sind. Verachtung hängt sich das Mäntelchen vermeintlicher Menschenkenntnis um. Wer als Angehöriger einer Minderheit Erfolg haben will, müsse überangepasst sein, im Zweifelsfall seine eigene Gruppe verraten oder verleugnen, glaubt man.
Das Tragische ist, dass darin ein Körnchen Wahrheit steckt. Hatte nicht das islamistische, frauenfeindliche Pakistan mit Benazir Bhutto einmal eine weibliche Regierungschefin? War nicht Bruno Kreisky als Jude zu einer Zeit Bundeskanzler, als man Österreich mit viel größerer Berechtigung als „Nazi-Land“ bezeichnen konnte als die heutige Ukraine? Kreisky tat so ziemlich alles, was heute russische Propagandisten Selenskyj vorwerfen: er verleugnete seine jüdische Herkunft, verbündete sich mit Rechtsradikalen und behinderte durch Angriffe auf seine Kritiker (zum Beispiel auf Simon Wiesenthal) eine offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit seines Landes. Auch ehemalige Nazis und Antisemiten wählten Kreisky. Für sie war er – „unser Jude“, dessen Geschick bewundert wurde und von dessen Reformen und Modernisierungsmaßnahmen fast alle im Land profitierten; doch niemand vergaß jemals, dass er Jude war.
Letztlich ist sogar durch die Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten und durch seine beiden Amtszeiten ein Land wie die USA nicht weniger rassistisch geworden. Nach Obama kam Trump. Rückständig und vordemokratisch ist es jedoch, anzunehmen, dass es nur so laufen kann, dass erfolgreiche Frauen oder Angehörige von Minderheiten zwangsläufig angepasste Opportunisten sein müssen.
Ist Wolodymyr Selenskyj ein solcher? Bis zu einem gewissen Grad ist er das, zudem ist er eitel und bekämpft seine politischen Gegner oft mit undemokratischen Mitteln. Aber er hat zum richtigen Zeitpunkt Mut und Geschick bewiesen und sein Land vor dem Untergang bewahrt. Da werden ihm wohl sogar die Ultranationalisten und (wenigen) Neonazis im eigenen Land verzeihen, dass er Jude ist.
Der Antisemitismus hat in Osteuropa eine lange Tradition. Im postsowjetischen Raum ist er immer noch stark ausgeprägt und im gesellschaftlichen Diskurs bei weitem nicht so tabuisiert wie in Mittel- und Westeuropa. Einst waren Polen, Litauen, Belarus und die Ukraine Zentren jüdischen Lebens. In vorindustrieller Zeit nahmen Juden jahrhundertelang eine wirtschaftliche Vermittlerrolle zwischen der Schicht der herrschenden Großgrundbesitzer und den leibeigenen Bauern ein.
Diese Stellung war prekär. Der Adel verachtete sie, die Bauern hassten sie. Die Gefahr von Pogromen war immer präsent. Später opponierten viele Juden gegen das repressive zaristische Regime, wurden zu Intellektuellen, Künstlern und Revolutionären, was sie bei vielen Menschen gleichermaßen verhasst machte. Ihr Auftreten und ihr Erfolg wurden als anmaßend empfunden, der bolschewistische Terror mit ihnen in Verbindung gebracht.
Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn – einer der größten russischen Autoren des 20. Jahrhunderts und nach Eigendefinition halb Russe, halb Ukrainer – meinte, ein Jude, so assimiliert er auch sein möge, werde das Wesen und die Seele eines slawischen Menschen niemals verstehen. Damit sprach er nur aus, was viele seiner Landsleute dachten und immer noch denken – Mentalität und Charakter liege den Menschen im Blut. In der Sowjetzeit mussten Menschen jüdischer Herkunft unter Stalin mit Verfolgung, später mit Diskriminierungen bei der Ausbildung und im Berufsleben rechnen.
Bis in die 1990er Jahre war die „nationale“ Herkunft aller Menschen in ihren Personalausweisen festgeschrieben. Auch Juden galten als Ethnie. Unabhängig von ihrem Glauben oder ihrem Selbstbild wurden Menschen jüdischer Herkunft offiziell als Juden angesehen. Niemand, auch sie selbst nicht, wäre auf die Idee gekommen, sie seien Russen oder Ukrainer, Belarussen, Letten oder Georgier, auch dann nicht, wenn sie in diesen Ländern lebten und sich längst an die jeweiligen Sprachen und Kulturen assimiliert hatten. Diese Vorstellung ist noch nicht zur Gänze überwunden – weder in Russland noch in der Ukraine oder in den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Unter den von den russischen Machthabern heute als sogenannte „ausländische Agenten“ bezeichneten Regimegegnern sind auffallend viele Juden. Vor kurzem waren es zum Beispiel der Kreml-Kritiker und ehemaliger Polithäftling Michail Chodorkowski und der frühere Schachweltmeister Garri Kasparow, denen vorgeworfen wurde, von der Ukraine und der USA finanzielle Unterstützung erhalten zu haben. Juden und Menschen jüdischer Herkunft als Vaterlandsverräter und gekaufte Saboteure zu diffamieren, hat in Russland immer noch Tradition.
Heilsamer Schock für die Elite
Putins Angriffs- und Vernichtungsfeldzug gegen sein Nachbarland ist kein „jüdischer Krieg“. Die „jüdische Frage“ steht nicht im Vordergrund, wird aber – wie könnte es auch anders sein – dennoch immer wieder thematisiert. Zu den wenigen „positiven“ Auswirkungen dieses Krieges gehören allerdings der heilsame Schock und die Scham, die er bei der intellektuellen und künstlerischen Elite Russlands ausgelöst hat. In diesem Milieu (einer kleinen Minderheit zwar, aber immerhin!) haben nun jegliche Formen des als „Nationalstolz“ getarnten Chauvinismus keine Chance mehr. In der Ukraine wiederum setzt sich zunehmend das moderne Konzept durch, alle Staatsbürger, die sich zu ihrem Land bekennen, unabhängig von ihrer Herkunft und Muttersprache als Ukrainer zu sehen.
© Vladimir Vertlib
Vladimir VERTLIB, geboren 1966 in Leningrad, emigrierte 1971 mit seiner Familie nach Israel, übersiedelte 1981 nach Österreich. Lebt als Autor in Salzburg und Wien. Zuletzt bei Residenz erschienen: der Roman „Zebra im Krieg“ (2022).