Aus Russland geflüchtet: Exil der Hoffnung?

07.04.2022 um 15:05, „Die Presse“, Wien

von Vladimir Vertlib

Russland im Krieg. Was viele vergessen: Es gibt eine intellektuelle Gegenwelt in Russland. Exil und innere Emigration haben lange Tradition.

Die Moskauerin Tamara Edelmann ist eine 62 Jahre alte pensionierte Geschichtslehrerin, die in ihrem Heimatland durch eine Reihe von YouTube-Videos zu verschiedenen historischen Themen bekannt geworden ist. Am 20. Februar fuhr sie nach Griechenland auf Urlaub und kam nicht mehr nach Hause zurück. Als der Krieg begann, beschloss sie, statt nach Moskau zu ihrer Tochter nach Lissabon zu reisen. So wurde sie – wie unzählige andere russische Intellektuelle – plötzlich und unvorbereitet zu einer Exilierten.

Frau Edelmanns Videos sind scheinbar simpel gemacht: Sie sitzt in einem bequemen Sessel oder auf einer Couch in ihrem Wohnzimmer und erzählt spannende Geschichten über Iwan den Schrecklichen oder die Sklaverei in den USA, über Puschkin, Lenin, die Geheimnisse der Osterinsel oder über König Arthur. Das YouTube-Video über die bei uns völlig unbekannte Zarin Anna Ioannowna (sie regierte von 1730 bis 1740) hatte bis jetzt knapp 409.000 Aufrufe, und manch anderer Beitrag wurde mehr als eine Million Mal angeklickt. Im deutschen Sprachraum erreichen bestenfalls technisch aufwändig gestaltete Dokus zu aktuellen Themen eine ähnliche Breitenwirkung.

Zweifellos ist die hoch gebildete Historikerin Edelmann eine brillante Erzählerin. Ihr Erfolg ist aber gleichermaßen individuell wie exemplarisch. In einem Land wie Russland halten etwa 80 Prozent der Menschen Putin für einen großen Staatsmann, etwa 70 Prozent glauben seiner Propaganda bedingungslos, und weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist ignorant, apolitisch, gleichgültig und fatalistisch. Demgegenüber gibt es – wie schon zu Sowjetzeiten – eine beachtliche Minderheit, denen Lyrikbände wichtiger sind als teure Markenkleider, die nicht nur Gedichte, sondern auch klassische Prosatexte auswendig aufsagen können und ihre nationale Identität über Sprache und Kultur und nicht über die Anzahl von Nuklearsprengköpfen oder die Fähigkeit, andere auf die Knie zu zwingen, definieren. Tamara Edelmann repräsentiert diese Bevölkerungsgruppe besser als manch schillernde Superstars der Künstler- und Intellektuellenszene, weil sie so unprätentiös ist, so einfühlsam und milde wirkt und dennoch stets kompromisslos hohe moralische Grundsätze vertritt. Ja, auch das ist typisch russisch – im guten Sinne.

Während die westlichen Medien hauptsächlich über die in Ungnade gefallene Operndiva Anna Netrebko oder den Dirigentensuperstar Walerij Gergijew schreiben, und die Berichterstattung über den Widerstand gegen Putins Krieg in Russland sich auf Einzelbeispiele oder die Berichte über Demonstrationen beschränkt, wird leider oft vergessen, wie bedeutsam die intellektuelle Gegenwelt, die Macht des Exils, der Lager und der inneren Emigration in Russland sind. Das hat eine lange Tradition. Schon der russische Nationaldichter Alexander Puschkin musste im 19. Jahrhundert für einige Zeit in die Verbannung gehen. Dostojewski erlebte eine Scheinexekution und verbrachte mehrere Jahre in einem Straflager. Drei russische Literaturnobelpreisträger – Bunin, Solschenitzyn und Brodskij – waren viele Jahre im Exil. Und 1922, vor genau hundert Jahren also, verließ ein Schiff mit knapp zweihundert russischen Intellektuellen den Hafen von Petrograd (St. Petersburg). Das so genannte „Philosophenschiff“ brachte die führenden Köpfe des Landes zwangsweise außer Landes. Immerhin wurden sie „nur“ deportiert. Wer damals im Land bleiben konnte, wurde einige Jahre später eingesperrt oder ermordet.

Heute gibt es keinen Eisernen Vorhang mehr. Wer weg will, geht „freiwillig und ungehindert“. Die Schriftstellerin Ljudmilla Ulitzkaja befindet sich zur Zeit in Berlin, der junge Rapper FACE (Iwan Dryomin), der das ukrainische Volk öffentlich um Verzeihung gebeten hatte, in Athen. Der bekannte Pop-Sänger Walerij Meladze hat schon Ende Februar den Krieg verurteilt. Nun hat er in Russland Auftrittsverbot, ist aber (noch?) nicht verhaftet.

Das deutsche und österreichische Exil der Jahre 1933-1945 hätte durchaus das Potenzial gehabt, nach dem Krieg als Nukleus einer demokratischen, intellektuellen und kulturellen Erneuerung zu dienen. Dies wurde verhindert: Die ehemals Verfolgten und Geflüchteten wurden lange Zeit vergessen, verachtet oder bewusst ignoriert; kaum jemand kehrte aus der Emigration zurück. In Russland wird dies nach dem Ende des Putin-Regimes wahrscheinlich anders sein – dafür ist das Exil zu groß und hat, wie schon erwähnt, eine lange Tradition. Sobald die Diktatur fällt, werden sich die Kräfte des Exils und der inneren Emigration zu Wort melden. Aufgabe des Westens besteht darin, den geflüchteten Künstlern und Intellektuellen das nötige Forum und die nötige Sicherheit zu bieten, auf dass sie als Elite im Exil nicht verdorren oder resignieren. Russland wird sie brauchen und wir auch! Sie nämlich sowie jene mutigen Regimegegner, die der Gefahr trotzen und im Land bleiben, und nicht Pop-Sternchen wie Polina Gagarina, die auf Putins Kriegstreiberveranstaltungen auftreten, oder Putinverehrerinnen wie Netrebko, die erst jetzt krampfhaft die Seite zu wechseln versuchen, sind das wahre Russland … Etwa achtzig Prozent aller Kulturschaffenden sprechen sich allerdings weder für noch gegen Putin aus. Sie schweigen und warten ab, um sich zum richtigen Zeitpunkt „richtig“ zu positionieren.

Ich selbst empfinde Scham – Scham für die faschistische Diktatur in Russland, meinem ursprünglichen Heimatland, dessen Armee gerade in der Ukraine massenweise Zivilisten ermordet, und Scham für mein heutiges Heimatland Österreich und für die EU, in denen doch seit zwanzig Jahren bekannt war, wer Putin ist. Seit dem Vernichtungskrieg in Tschetschenien wusste man es schon, nach dem Krieg gegen Georgien wusste man es noch besser, nach der Annexion der Krim, dem Krieg und Terror im Donbass und den Massenmorden an der Zivilbevölkerung in Syrien, nach der Verfolgung und Ermordung von Oppositionellen und der Gleichschaltung der Gesellschaft gab es längst keine Zweifel mehr, mit wem man es zu tun hatte. Trotzdem wurde Putin von unseren Politikern stets freundlich empfangen. Gleichermaßen war es bekannt, wie Gergijew, Netrebko und viele andere zu Putin stehen, doch war dies jenen, die heute mit ihnen nichts mehr zu tun haben wollen, offenbar jahrelang kein Problem. Wenn ukrainische Kinder sterben, ist das furchtbar, tschetschenische und syrische Kinder waren offenbar weniger wert. Wie groß muss ein Verbrechen denn sein, wie beängstigend, wie nahe an der eigenen Lebenswelt, um Menschen aufzurütteln?

Meine eigene Scham will ich nicht verdrängen. Vielmehr möchte ich mir die Fähigkeit zur Scham in einer Welt zunehmender Unverschämtheit bewahren. Gegen Letztere anzukämpfen, ist die Sisyphusarbeit, der wir uns alle stellen sollten – immer und überall.

© Vladimir Vertlib

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