Vladimir Vertlib: Rede zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ am 27. Jänner 2023 in Salzburg

Rede, gehalten im Rahmen der Veranstaltung zum „International Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ am 27. Jänner 2023 am Antifaschistischen Mahnmal beim Hauptbahnhof Salzburg

Hinter der Gedenkveranstaltung standen die Katholische Aktion, das Stadtarchiv, das Personenkomitee Stolpersteine, die Israelitische Kultusgemeinde, der KZ Verband, der Bund Sozialdemokratischer FreiheitskämpferInnen und erinnern.at

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde!

Als man mich gebeten hatte, zum Schoah bzw. Holocaust-Gedenktag 2023 eine Rede zu halten, habe ich gezögert: Dieses Jahr ist anders als das letzte Jahr und die Jahre davor, denn in einem der Gebiete, wo einst Juden, Sinti und Roma und viele andere ermordet wurden, wo vor achtzig Jahren ein Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug stattfand, findet genau jetzt abermals ein brutaler Krieg statt, und vieles, was dort heute passiert, erinnert auf eine entsetzliche, eine erschütternde Weise an damals, auch wenn es natürlich niemals ganz stimmig sein kann, historische Ereignisse zu vergleichen. Es ist falsch, sie gleichzusetzen, aber man kann auf erkennbare Parallelen, auf bezeichnende Ähnlichkeiten, hinweisen. Doch der 27. Jänner ist für mich noch viel mehr als der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz oder ein Schoah-Gedenktag.

Am 27. Jänner 1944 – genau ein Jahr vor der Befreiung des KZ Auschwitz – wurde die von der deutschen Wehrmacht durchgeführte Blockade meine Geburtsstadt Leningrad endgültig aufgehoben. Die deutsche Heeresgruppe Nord wurde geschlagen und musste sich an diesem Tag aus den Vororten von Leningrad zurückziehen. Vom 8. September 1941 bis 27. Jänner 1944 hatte die Belagerung der Stadt gedauert – so wie die Schoah war diese Belagerung ein Genozid, eine bewusst geplante und durchgeführte Vernichtung der Zivilbevölkerung der Stadt durch Hunger: Bis zu einer Million Menschen kamen in den zweieinhalb Jahren der Blockade in Leningrad ums Leben. Meine Familie – Eltern und Großeltern, Onkel und Tanten – waren ebenfalls in der Stadt gefangen; sie überlebten nur knapp, trugen aber ein lebenslanges Trauma davon. Die meisten von ihnen wussten schon während des Krieges: Sollte die Stadt von den deutschen Truppen eingenommen werden, würde man sie als Juden ermorden. Sollte die Stadt nicht eingenommen werden, würden sie wahrscheinlich verhungern – die Wahrscheinlichkeit zu überleben, war dabei aber etwas höher. Und sie überlebten!

Die Tatsache, dass das NS-Regime von einem Sturm auf Leningrad Abstand nahm und stattdessen beschloss, die Stadt, die völlig zerstört und entvölkert werden sollte, auszuhungern, um Ausrüstung und Munition zu sparen und die „Endlösung – die Auslöschung der Leningrader Bevölkerung“ sozusagen von sich aus geschehen zu lassen, rettete meiner Familie also indirekt das Leben. Ein Genozid neutralisierte den anderen. Meine Verwandten hungerten, aber durch eine Verkettung glücklicher Umstände verhungerten sie nicht, die Stadt wurde belagert, aber letztlich niemals von der Wehrmacht eingenommen. Der deutsche Massenmord an den Juden endete wenige Kilometer von meinen Eltern, die damals noch Kinder waren, entfernt – in den Vororten der Stadt, wo die meisten Juden schon 1941 erschossen wurden. Jene Verwandten von mir, die vor dem Krieg noch in ihrer ursprünglichen Heimat, in Belarus und der Ukraine, gelebt hatten, wurden von den Nazis verfolgt und viele von ihnen umgebracht: Von SS-Einsatzgruppen erschossen wie meine Urgroßmutter, von Nachbarn erschlagen oder bei lebendigem Leibe in einer Grube verscharrt …

Der 27. Jänner ist für mich also in doppelter Hinsicht ein persönlicher Gedenktag und ein Tag der Befreiung.

Als man mich gebeten hatte, eine Rede hier und heute in Salzburg zu halten, habe ich, wie schon erwähnt, zuerst gezögert. Ich war mir nicht sicher, ob ich zusagen soll. Als Jude hatte ich oftmals Scheu, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen, weil ich einerseits den Eindruck vermeiden wollte, meine Herkunft sei der primäre Grund, warum ich überhaupt dazu eingeladen wurde, und andererseits, weil ich das Gefühl hatte, die Nachkommen der Täter*innen sollten sich um die Erinnerung, um das Gedenken bemühen und vor allem darum, dass sich Derartiges nicht wiederholt. Ich selbst und die meisten anderen Nachkommen der Opfer brauchen eigentlich keine Gedenkveranstaltungen, um uns zu erinnern; das Trauma ist ohnehin zu stark, als dass wir vergessen; und wenn wir gedenken, hat dies eine andere Form und eine andere Bedeutung.

Ich habe schließlich doch zugesagt, hier eine Rede zu halten, weil mich die gesellschaftlichen und politischen Zustände HEUTE derart schockieren und fassungslos machen, dass ich dazu nicht schweigen kann, und weil ich durchaus eine Verbindung und Parallelen zu dem erkennen kann, was DAMALS war und was HEUTE stattfindet, was wir tagtäglich erleben müssen, beobachten und das – ob Kriege in der Ferne oder vor unserer Haustür, Angriffskriege, Faschismus, Entsolidarisierung, Armut, Zynismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus und noch viel mehr als das – bei einigen, nein, bei viel zu vielen, schon jenes typische Wegschieben provoziert, jenes „Ich kann’s nicht mehr hören!“ und „Lass uns von etwa anderes reden!“ und, noch öfter und noch bedenklicher: „Wir können ja sowieso nichts dagegen tun“, was letztlich dazu führt, dass man es irgendwann noch öfter hören und darüber reden wird müssen, weil man das, was passiert, dann schon widrigenfalls am eigenen Leibe spürt. Darauf hinzuweisen, zu mahnen, sehe ich als meine Aufgabe an. Das mag zwar nicht sehr originell sein, aber wohl gerade deshalb immer wieder notwendig, auf dass das Offensichtliche nicht vergessen wird.

Und nein, ich werde Ihnen nicht erklären, was Sie, Sie alle, die hier stehen und zuhören, tun und lassen und was Sie denken sollen. Viele von Ihnen wissen das ohnehin oder haben sich längst entscheiden. Was ich Ihnen auf den Weg mitgeben möchte, ist auch kein: „Währet den Anfängen!“ – das sagt alles, aber auch nichts aus, versteht sich von selbst und ist längst abgegriffen. Was ich Ihnen sagen möchte, ist schlichtweg das, was mich selbst bewegt beziehungsweise das, was mich bei vielen meiner Mitmenschen stört – nämlich ein entweder freundlich distanziertes oder ein genervtes oder gar ein aggressives Unpolitisch-Sein. Deshalb sage ich allen, weil mir das ein besonderes Anliegen ist: SEIEN SIE BITTE POLITISCH! DENKEN SIE POLITISCH! HANDELN SIE POLITISCH! Man muss nicht derselben Meinung sein, aber nachzudenken bringt schon sehr viel, und involviert statt gleichgültig zu sein, ist wichtiger als alles andere. Manchen von Ihnen wird das trivial vorkommen. Viele halten sich ohnehin für politische Menschen und brauchen Aufforderungen dieser Art gar nicht. Gewiss. Mag schon sein. Ich frage mich allerdings, ob dies auch auf jene Jugendlichen zutrifft, die sich von den Eltern im SUV zu den „Fridays For Future“-Demos bringen lassen und jedes Jahr ein neues Handy kaufen, während sie andere auffordern, sich einzuschränken, um das Klima zu retten.

Ich frage mich, ob dies für jene gilt, die sich in den letzten Jahren nicht gegen Covid impfen haben lassen, und jenen, die sie dafür kritisierten, Bilder des Eingangstors des KZ Auschwitz mit hineinkopierter Aufschrift „Impfen macht frei!“ geschickt haben. Ich selbst habe solche Bilder von einigen Leuten erhalten. Ich verspüre immer noch ohnmächtige Wut, wenn ich daran denke. Immerhin, wenn auch viel zu spät, hat man solche Bilder verboten.

Ich frage mich, ob dies für jene gilt, die angesichts des von Putin begonnenen Angriffs- und Vernichtungsfeldzugs auf einer vermeintlich gesetzlich verankerten politischen Neutralität pochen und damit einem faschistischen Regime in die Hände spielen. Und ich frage mich natürlich, ob dies für jene gilt, die bei uns die Partei wählen, welche für diese faschistoide, menschenverachtende und pro-Putinsche Haltung steht. Ist das nicht eine apolitischen Haltung par excellence?

Ich frage mich, ob dies für jene gilt, die den Sozialabbau, die gesellschaftliche Polarisierung und Steuererleichterungen für Reiche und Superreiche als scheinbar gottgegeben hinnehmen, in Zuwanderern, Asylsuchenden, sozial Schwachen und den Angehörigen von Minderheiten hingegen ihre Hauptfeinde sehen. Wer profitiert wohl davon?

Ich frage mich oft, warum Menschen nicht nachdenken! Apolitisch zu sein, bedeutet nicht unbedingt, sich für Politik nicht zu interessieren. Es bedeutet, nicht nachdenken zu WOLLEN oder zu können, das Offensichtliche nicht zu sehen, keine Querverbindungen herzustellen – oftmals aus Eigeninteresse, in den meisten Fällen aber schlichtweg aus Einfalt oder Bequemlichkeit.

In den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts dachten viele Menschen ebenfalls nicht nach. Vielleicht wollten viele von ihnen niemandem etwas Böses. Sie hatten jüdische Freundinnen und Freunde, sind mit jüdischen Kameraden in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs gelegen und hatten danach mit diesen zusammen geschworen, dass es nie wieder Krieg geben werde. Vielleicht hatten sie 1932 und 1933 Hitler gewählt, weil sie das, was er sagte, für nichts als Wahlkampfrhetorik hielten, weil sie nur das sahen, was sie sehen wollten – die einfachen und schnellen Lösungen in Zeiten von Chaos, wirtschaftlichem Niedergang und einer bedrohlich steigenden persönlichen Unsicherheit. Und es folgten auch danach noch einige Jahre, in denen man bequem unpolitisch sein und wegschauen konnte, wenn man sich dabei auch noch die Ohren zuhielt und die Klappe hielt – bis schließlich nicht nur die typischen Sündenböcke, sondern alle zu Opfern der eigenen Ignoranz wurden, sofern man nicht ohnehin von Anfang an böse Absichten hatte.

Wer die Parallelen zur heutigen Zeit nicht erkennen kann, ist blind und – apolitisch.

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich heute hier stehe und zu ihnen spreche. Wir alle haben in den letzten elf Monaten nicht nur erlebt, mit welch brutaler Gewalt wieder ein Krieg in Europa geführt wird, wir haben auch erlebt, dass Begriffe wie „Faschismus“, „Entnazifizierung“, „Kampf gegen Nazis“, „Chauvinismus“ und „Genozid“ missbraucht, umgedeutet und in ihr Gegenteil verkehrt werden. Das Putin-Regime in Russland ist faschistisch, führt aber einen Krieg, um ein angeblich faschistisches Nachbarland zu entnazifizieren. Putins Russland greift die Ukraine an, kämpft dabei aber angeblich gegen die NATO, welche es mehr oder weniger direkt mit Nazi-Deutschland gleichsetzt. Das Putin-Regime spricht von Genozid an der russischen Bevölkerung (den es niemals gegeben hat), während es eigentlich selbst einen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine und die Ukrainer*innen durchführt. Das Putin-Regime kämpft vermeintlich gegen Nazis, bedient sich dabei aber ausgerechnet einer Söldnertruppe mit dem Namen „Wagner“, die einen Totenkopf als Emblem hat und angebliche Verräter mit Vorschlaghammern exekutiert. In der Ukraine und in Russland wird es in absehbarer Zeit leider einige neue Gedenktage geben.

Ich sprach mit Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, mit Überlebenden der Belagerung von Mariupol, die letztes Jahr Zehntausenden das Leben gekostet hat. Was ich von jungen Menschen, die schon im 21. Jahrhundert geboren wurden, zu hören bekam, erinnerte mich in einigen Details auf frappierende Weise daran, was meine heute 85 Jahre alte Mutter über die Leningrader Blockade erzählt, die sie als Kind miterlebt hat. Das alles sollte uns zu denken geben, sollte uns noch hellsichtiger und hellhöriger machen, besonders dann, wenn wir in uns hineinhören und uns fragen, wie sehr die Erfahrungen vorangegangener Generationen direkt oder indirekt in uns nachwirken, die Wut und die Vorurteile, die Verletzungen und Traumata, die Kränkungen und Verluste, die Hoffnungen und Enttäuschungen. Ein Schoah-Gedenktag darf sich nicht in der Erinnerung an Opfer und Täter erschöpfen, sondern sollte stets der Frage nachgehen: Was hat das mit mir zu tun, mit meiner Familie, meiner Lebensgeschichte, meinen Gefühlen und Ängsten, meinen Hoffnungen für die Zukunft. Und vor allem: Was kann ich tun, damit solche Verbrechen nicht wieder passieren, damit die Welt eine bessere wird? Ein Gedenken hat keinen Sinn, wenn es folgen- und tatenlos bleibt.

Übrigens und gar nicht so nebenbei erwähnt, gibt es in unserem Land eine Partei, die eine „Festung Österreich“ errichten und unser Land vor vermeintlich „unliebsamen Elementen“ säubern möchte und dabei den Ausdruck „Freiheitlich“ in ihrem Parteinamen trägt. Dass diese und andere Lügen bei so vielen Menschen „funktionieren“, zeigt, wie wichtig kritisches Nachdenken und Hinterfragen, wie wichtig Mut und Haltung in unserer Zeit sind. Freiheit sieht anders aus!

Ich wünsche mir viel mehr politisches Denken in den Köpfen meiner Mitmenschen! Ich möchte, dass Menschen nachdenken und sich engagieren. Was ich mir aber vor allem wünsche, ist, dass ich Reden wie diese irgendwann nicht mehr halten werde müssen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

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