Ukraine: Am zweiten Tag begann der Beschuss
„Die Presse, Spectrum“, S. I und II.
18.02.2023 um 13:14
von Vladimir Vertlib
Früher habe sie sich gern Dokumentationen über Kriege angeschaut, erzählt die aus Mariupol geflohene Tatjana, und habe sich gewundert, was ein Mensch alles aushalten kann. „Jetzt, nachdem ich das selbst erlebt habe, kommt es mir vor, als sei das gar nicht ich gewesen.“
Anfangs habe ich mich noch gefragt, warum uns das alles passiert, doch mit der Zeit war es mir egal“, erzählt die 17-jährige Olga. „Jedes Mal, bevor ich einschlief, wusste ich nicht, ob ich wieder aufwachen werde. Wenn du beschossen wirst, denkst du bei jeder Explosion, dass es das nächste Mal dein Haus trifft. In diesem Augenblick ist es dir egal, wer recht oder unrecht hat. Du willst nur leben. Ich wollte leben.“
Olga stammt aus Mariupol. Vom 24. Februar bis 28. März haben sie, ihre Eltern und ihre Großmutter die Belagerung erlebt. Heute ist die Familie in Deutschland im Exil. Olgas Mutter Tatjana berichtet chronologisch über das Erlebte, manchmal steht ihr das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, ihre Sprache und ihr Tonfall geben dagegen Emotionen seltener preis. Anatolij, Olgas Vater, fügt manchmal etwas ergänzend hinzu, ringt nach Worten. Olga redet schnell, präzise, manchmal mit einem Hauch von Ironie in der Stimme. Es scheint, als liefen ihre Gedanken den von ihr formulierten Sätzen davon.
Ich treffe Tatjana, Anatolij und Olga bei einem gemeinsamen Freund. Sie und noch einige andere Flüchtlinge aus der Ukraine haben sich zu einem Interview bereit erklärt. Bedingung ist, dass ich keine Fotos von ihnen veröffentliche. Sie haben Verwandte und Freunde in der Heimat, viele in dem von Russland besetzten Gebiet, die sich nicht gefährden wollen. Das verstehe ich gut, stamme ich doch selbst aus der ehemaligen Sowjetunion. Ich kenne die Risiken, mache nicht nur keine Fotos, sondern ändere in diesem und in anderen Artikeln, die ich über diese Flüchtlinge aus der Ukraine verfasse, ihre Namen.
Olga, die also in Wirklichkeit anders heißt, und ihre Eltern, eine weitere Familie aus Mariupol und eine junge Frau aus Charkiw sprechen Russisch mit mir. Es ist ihre Muttersprache. Niemand, beteuern sie, habe sie deshalb jemals diskriminiert. „Wir beherrschen beide Sprachen“, erzählt Tatjana, „haben sowohl ukrainische als auch russische Bücher gelesen und Musik gehört; es war nie und nirgendwo in der Ukraine ein Problem. Wir haben unsere Stadt geliebt und wollten niemals wegziehen. In den vergangenen Jahren hat sich Mariupol wunderbar entwickelt; es wurden neue Parkanlagen angelegt, eine neue Uferpromenade gebaut, Kaffeehäuser eröffnet.“
Alle betonen, wie gut sie vor dem Krieg gelebt haben. Niemand wollte von den russischen Truppen „befreit“ werden; es gibt keine „Nazi-Herrschaft“ in der Ukraine. Tatjana hat als Zahntechnikerin gearbeitet, Anatolij, früher Fabrikarbeiter, hatte eine eigene Firma, die Reparaturen durchführte. Olga, eine Vorzugsschülerin, war in der letzten Schulklasse und hätte im Frühjahr maturieren sollen. Seit einigen Jahren hatte sie Deutsch gelernt, hatte vor einiger Zeit einen Sprachkurs in Österreich gemacht, sie träumte davon, in Wien zu studieren. Ihr letzter Schultag war der 23. Februar.
Olga ist es auch, die schon Mitte Februar Angst und Vorahnungen hat, nicht mehr einschlafen kann, die Eltern bedrängt, ihre Koffer zu packen und abzureisen.
„Sie ist sehr sensibel, wir dachten, sie habe einen Nervenzusammenbruch wegen Übermüdung“, erinnert sich ihre Mutter. „Ich brachte sie zum Arzt, bat ihn, ihr ein Beruhigungsmittel zu geben … Mein Mann und ich dachten nicht, dass es Krieg geben wird. Noch am 16. Februar war Präsident Selenskyj in der Stadt, um zusammen mit [dem Oligarchen] Rinat Achmetow den Grundstein zu einer neuen, supertollen Schule zu legen, die gebaut werden sollte. So etwas tut man doch nicht, wenn ein Krieg kommt!, dachten wir. Am 22. Februar waren wir noch auf einer Hochzeit, haben gefeiert, besuchten ein Kaffeehaus … Am 24. Februar weckte uns ein Lärm, den wir schon aus dem Jahr 2014 kannten, als unsere Stadt von Separatisten erobert und dann von ukrainischen Truppen zurückerobert wurde. Wir wussten sofort, was los war. Nur das, was jetzt kommen sollte, war unvergleichbar schlimmer als damals.“
Das Haus der Familie hat keinen Luftschutzkeller, doch in einer Nebenstraße, keine hundert Meter entfernt, lebt Tatjanas Mutter in einem alten Wohnblock aus den 1950er Jahren. Damals baute man noch Häuser mit Luftschutzkellern, ein Jahrzehnt später nicht mehr.
„Wir waren dreißig Leute im Luftschutzraum“, erinnert sich Tatjana. „Alte. Junge. Frauen mit Kindern. Ein krankes Kind, ein autistisches Kind. Hunde, Katzen und andere Haustiere. Eine Toilette gab es nicht. Wir benutzten einen Kübel. Am ersten Tag gab es noch Licht, am zweiten Tag nicht mehr. Das machte mir Angst. Es war wie in einer Gruft.“
„Am zweiten Tag begann der Beschuss“, erzählt Olga. „Bald gab es kein Strom, kein Wasser, kein Internet. Wir hatten keinen Kontakt nach außen mehr, wussten nichts über unsere Angehörigen und Freunde, wussten nicht, was in der Welt passiert.“ Der Beschuss dauert Tag und Nacht. Wer hinaus geht, um etwas Essbares zu besorgen, läuft Gefahr, im Bomben- und Granatenhagel zu sterben oder erschossen zu werden. „Nach fünf bis sieben Tagen verstanden wir, dass es in der Stadt keinerlei Recht oder Verwaltung mehr gibt“, berichtet Tatjana. Der Bürgermeister sei sehr bald aus der Stadt geflüchtet, bemerkt Olga bitter. „Die Feuerwehr existierte nicht mehr, die von Bomben getroffenen Häuser brannten wochenlang; Rettungswagen fuhren keine mehr; wer seine verletzten Angehörigen selbst in ein Krankenhaus bringen konnte, hatte eine gewisse Chance, dass sie dort behandelt werden. Leichen lagen einfach auf der Straße, einige wurden begraben, andere nur zugedeckt, manche wurden von streunenden Hunden gefressen.“
Mit etwa minus zehn Grad ist es in diesem März für eine südukrainischen Hafenstadt extrem kalt. Um sich zu wärmen und zu kochen, machen die Bewohner Feuer in den Hinterhöfen und vor den Eingängen zu ihren Häusern – und laufen dabei stets Gefahr, von Fliegerbomben oder anderen Geschossen getötet zu werden. Geschäfte oder Apotheken sind, soweit noch vorhanden, längst geschlossen. Man bricht dort ein, plündert sie, um an Essbares und an Medikamente zu kommen, trinkt geschmolzenen Schnee oder lässt Wasser aus Heizkörpern ab, um es zu filtern und zu trinken. Als alle Kerzen verbraucht sind, füllt man etwas Öl in Behälter, zündet einen Docht aus Watte oder Stoff an. So kann man sich wenigstens notdürftig im finsteren Luftschutzkeller bewegen.
„Früher habe ich sehr gerne Kriegsfilme über den Großen Vaterländischen Krieg angeschaut“, sagt Tatjana, „und mich gewundert, was der Mensch alles aushalten kann. Jetzt, nachdem ich das selbst erlebt habe, kommt es mir vor, als sei das gar nicht ich gewesen. Ich habe mich ja immer für einen schwachen Menschen gehalten.“
Covid ist kein Thema mehr
In dieser Extremsituation müssen Menschen „funktionieren“. Die meisten tun es auch – kaum jemand wird krank, Covid ist kein Thema mehr, und sogar Olgas herzkranke Großmutter hat in dieser Zeit keine Beschwerden. Wer überleben will, muss sich zudem anderen gegenüber solidarisch verhalten. Die Menschen helfen einander, auch jene, die vorher gestritten oder nicht miteinander geredet hatten. Wer etwas Essbares, Wasser oder Holz zum Heizen auftreibt, teilt es mit allen anderen.
„Wissen Sie“, erzählt Tatjana. „Im Jahre 2014 spielte sich der Krieg am Stadtrand ab, im Jahre 2022 wurde er seltsamerweise in den Innenhöfen der Häuser ausgetragen. Dort standen Panzer oder Minenwerfer und schossen – irgendwohin. Wenn dann zurückgeschossen wurde, waren sie schon weitergezogen, und wir waren die Leidtragenden.“
„Anfangs war ich wütend auf meine Eltern“, berichtet Olga. „Warum hat man nicht auf mich gehört, warum hat man mich nicht rechtzeitig von hier weggebracht? Am 24. und 25. Februar hatte es noch Evakuierungszüge gegeben, die Flüchtlinge in die Westukraine gebracht hatte, wir aber sind nicht mitgefahren.“
Die Eltern rechtfertigen sich nicht, versuchen zu erklären, dass sie ein gutes Leben gehabt hatten, welches sie nicht von einem Tag auf den anderen aufgeben wollten, lächeln traurig, streicheln zärtlich das Haar ihres Kindes. Sie haben alles verloren – ihr Haus, ihr Geschäft, ihr Vermögen, ihre Heimatstadt. Das 85 Jahre alte Gebäude von Olgas Schule wurde zerstört – so wie etwa 90 Prozent aller Gebäude in Mariupol. Mindestens 20.000 Zivilisten sollen während der Kampfhandlungen ums Leben gekommen sein. „Wenigstens leben wir noch und sind ganz geblieben“, sagt Anatolij. „Ich höre immer wieder von Bekannten, die zum Beispiel ein Auge verloren haben oder denen ein Bein abgerissen wurde.“
Neben Terror, Leid und Angst bedeutet Krieg vor allem den absoluten Kontroll- und Sicherheitsverlust. Tatjana erinnert sich an einen Polizisten, der in ihrem Luftschutzkeller völlig verzweifelt, betrunken, in sich gesunken auf dem kalten Steinboden saß, kauernd, das Gesicht in den Händen vergraben. Am Vortag noch Autoritätsperson war er nun ohnmächtig und verzweifelt, dass er nichts gegen diese Apokalypse unternehmen konnte.
„Die Ukraine ist ein sehr hierarchisch organisiertes Land“, erklärt Anatolij. „Der Status eines Menschen ist von entscheidender Bedeutung. Das beginnt schon in der Schule. Fragen wie: Welche Kleidung trägst du? Welches Auto haben deine Eltern? Welchen Computer, welches Handy hast du? sind entscheidend. Im Luftschutzkeller jedoch waren wir alle in derselben Situation – Markthändlerinnen und Direktoren, Hilfsarbeiter und Fabrikleiter. Nichts, was man einst war oder besaß, zählte noch – weder Geld, Macht, Einfluss oder Status. Alle versuchten, gemeinsam zu überleben.“
„Der Krieg hat alle gleich gemacht“, fällt ihm Tatjana ins Wort. „Was nützen dir Geld, Wertsachen oder Schmuck, wenn du dafür nichts kaufen kannst? Andere Dinge und vor allem Fertigkeiten werden überlebenswichtig: Kannst du Feuer machen? Bist du bereit, irgendwo einzubrechen, um essen aufzutreiben? Kannst du uns mit Wasser versorgen?“
Mit jedem Tag wird die Situation unerträglicher. Im Hof schlägt eine Rakete ein und tötet zehn Bewohner des Nachbarhauses, die um eine Feuerstelle vor dem Eingang zu ihrem Luftschutzkeller gesessen sind. Anatolij, der sich ebenfalls im Hof befindet, kann sich noch rechtzeitig auf den Boden werfen und wird nur leicht verletzt.
Eine alte Frau stirbt in ihrer Wohnung im vierten Stock. „Sie war schwer krank und gelähmt“, erinnert sich Tatjana. „Ihre Kinder und Enkel konnten sie nicht zu uns in den Luftschutzkeller heruntertragen. Lasst mich sterben, hatte sie ihnen gesagt. Geht hinunter, für euch ist es gefährlich hier oben. Mir ist wichtig, dass ihr in Sicherheit seid. Kurz darauf ist sie tatsächlich gestorben. Wahrscheinlich erfroren. Die Fenster waren geborsten, und draußen hatte es Minus neun Grad. Vielleicht ist sie auch verdurstet und verhungert. Wir haben sie dann im Hof begraben.“
„Verscharrt“, korrigiert sie Anatolij.
„Sie wäre ohnehin gestorben“, meint Olga. „Aber nicht so schnell und vor allem – nicht so!“
Die Innenstadt, am anderen Ufer des Flusses, werde nicht so intensiv bombardiert, heißt es. Von dort gäbe es zudem vielleicht eine Möglichkeit, die Stadt Richtung Westen, auf ukrainisch kontrolliertes Territorium, zu verlassen. Dies erweist sich als Trugschluss. Der unter Lebensgefahr erfolgte Umzug zu Tatjanas Schwester in die Innenstadt bringt nichts außer noch mehr Risiken. Es bleibt nur der Weg zurück – in den Luftschutzkeller, dem die Front immer näher kommt.
„Man hat uns befreit“, erzählt Tatjana. „Befreit von unserem Hab und Gut, unseren Freunden, unserer Sicherheit, unserer Heimat, unserem Glück, unserem Leben. Die Befreier haben wirklich ganze Arbeit geleistet!“
Die „Befreier“ bestehen unter anderem aus tschetschenischen Truppen, von denen man erzählt, dass sie Geld und Wertsachen stehlen und die Mädchen mitnehmen. Tatjana beschließt, Olga eine Mütze und eine Maske aufzusetzen, sagt ihr, sie solle ein so hässliches Gesicht wie nur möglich machen. „Wenn sie Olga etwas angetan hätten, hätte ich das nicht überlebt“, sagt sie. Doch die Tschetschenen ziehen an diesem Luftschutzkeller vorbei. Ende März gelingt der Familie die Flucht. In einem Lager auf russisch besetztem Gebiet, in der sogenannten Volksrepublik Donezk, die „so schäbig und arm wirkt, als wäre man immer noch in den 1990er Jahren“, gibt es Läuse, die magere Suppe dort reicht kaum zum Überleben, in den Geschäften werden Wucherpreise verlangt, doch wenigstens wird man nicht mehr beschossen. Über die Krim, Moskau und Warschau gelingt schließlich mit viel Mühe die Ausreise in den Westen …
Nicht nur Olga und ihre Eltern, sondern auch die anderen Flüchtlinge, die ich an diesem Nachmittag kennen lerne, erzählen mir bedrückende, oftmals absurde Geschichten: von tagelangen Fahrten in überfüllten Zügen, von korrupten russischen Beamten, die man bestechen muss, um die Brücke von Kertsch von der Krim nach Russland zu benützen, oder von einem russischen Soldaten, der ukrainische Flüchtlinge aus Mariupol nach einem Schmerzmittel fragt, weil sein Vorgesetzter starke Kopfschmerzen habe. Manche Geschichten kann man nicht erfinden. Sie sind bizarr, aberwitzig, aber dennoch exemplarisch, in jedem Fall berichtenswert. Ich werde darüber berichten.
Bei keinem ist Hass zu spüren
Was mich im besonderen Maße beeindruckt, ist die Haltung, mit der sich die Überlebenden dieses apokalyptischen Wahnsinns, den vor diesem Krieg niemand von ihnen für möglich gehalten hatte, der Zukunft stellen. Anatolij hat bei einer deutschen Firma Arbeit als Techniker gefunden. Tatjana lernt intensiv Deutsch, „um wenigstens zu verstehen, was die Leute sagen“. Olga hat ihren ukrainischen Schulabschluss online gemacht – die Goldmedaille für ihr ausgezeichnetes Diplom wurde ihr mit der Post nach Deutschland geschickt. Ihr Traum ist es, in Wien Wirtschaftsinformatik zu studieren. Was aber das Wichtigste ist: Bei keinem der Flüchtlinge verspüre ich Hass, Rachegedanken oder gar jenen aufgeregten, angriffigen Patriotismus, der bei manchen Menschen aus der Ukraine oder aus Russland umso größer ist, je weiter sie vom eigentlichen Kriegsgeschehen entfernt sind, sondern Wehmut und eine seltsam anmutende, sehr berührende, traurige Freundlichkeit.
(c) Vladimir Vertlib
VLADIMIR VERTLIB
Geboren 1966 in Leningrad, UdSSR. 1971 emigrierte seine Familie nach Israel, dann nach Italien, in die Niederlande und die USA, bevor sie sich 1981 in Österreich niederließ. Vertlib studierte Volkswirtschaftslehre und lebt seit 1993 als Schriftsteller in Salzburg und Wien. Sein jüngster Roman, „Zebra im Krieg“, über eine osteuropäische Stadt im Bürgerkrieg, ist 2022 im Residenz Verlag erschienen.