Lektüre, um frei zu atmen
Die Teilnehmerin an einer ihrer Schreibwerkstätten meinte einmal: „Du machst Fenster auf, wo es keine gibt.“ Das ist ein Satz, der als Metapher für ihr gesamtes Lebenswerk verstanden werden kann. Renate Welsh, Schriftstellerin: zum 80. Geburtstag.
Von Vladimir Vertlib (erschienen am 16. Dezember 2017 im „Spectrum“, Die Presse, Wien, S. IV)
15.12.2017 um 18:45
„Ich glaube immer noch, dass alle wirklichen Probleme nur radikal, also von der Wurzel her gelöst werden können“, sagt Renate Welsh. Diese Radikalität, nämlich als gleichsam leidenschaftlicher wie einfühlsamer und dennoch stets kompromissloser Versuch, den Dingen auf den Grund zu gehen, sie zu benennen, an der Wurzel zu packen und – dort, wo es notwendig und möglich ist – zu verändern, prägen seit Jahrzehnten sowohl das Schreiben als auch das pädagogische und soziale Engagement der Schriftstellerin Renate Welsh. Der Poetik-Vorlesung mit dem Titel Geschichten hinter den Geschichten, die Renate Welsh im Jahre 1994 an der Universität Innsbruck hielt, ist das obige Zitat entnommen. Damals sagte sie auch: „Gewiss hat die Sprache selbst ihre Grenzen.“ Aber: „Ich denke, dass das Schweigen mitschwingt, wenn wir mit der Sprache behutsam und achtungsvoll umgehen. […] Dann kann Sprache auch mithelfen, Nähe zu erzeugen und Wärme und Mauern aufzubauen gegen wirkliche Bedrohung, nicht gegen den anderen, Fremden.“ Dies kann man sowohl als Anspielung auf historische wie auch – und dies in höchstem Maße – auf aktuelle politische Ereignisse lesen. Denkt man an persönliche Verletzungen und Befindlichkeiten, ist die Aussage immer gültig, zeitlos wie die Macht der Sprache selbst. Sehr oft hängt beides zusammen: Das Persönliche und das Politische, Geschichten und Geschichte sind miteinander verwoben. Das Schweigen der Nachkriegsjahrzehnte und der Fremdenhass von heute haben andere Ursachen, aber dieselbe Wurzel. Die Unfähigkeit, Nähe aufzubauen, menschliche Wärme zu geben, zu empfinden oder anzunehmen, lässt Verletzungen und Verletzbarkeit erahnen, führt zu Verhärtung und Aggression gegen den Anderen, den Fremden. Ob Schweigen nun Stille bedeutet oder durch laute Worte zugedeckt wird – als Ausdruck des Wesentlichen bleibt es ständig präsent. Wer wie Renate Welsh dem Verborgenen, dem Verdrängten und Nichtgesagten Sprache verleiht, wer ihm Gültigkeit, Rahmen und Konturen gibt, macht die ambivalente Kehrseite des scheinbar Offensichtlichen und Aufdringlichen erst erkennbar, im besten Fall sogar erklärbar. Dann führt menschliche Nähe zu Sicherheit, Wärme erzeugt Kraft, und die notwendigen Schutzmauern, die wir aufbauen, sind niemals aus Ziegeln, Beton oder Stacheldraht gefertigt.
Renate Welsh-Rabady wurde als Renate Redtenbacher, Tochter des Arztes Norbert Redtenbacher, am 22. Dezember 1937 in Wien geboren. Ihre Mutter starb, als das Kind vier Jahre alt war. In den nächsten Jahren waren die Großeltern für Renate der wichtigste Halt, doch auch der geliebte Großvater starb, als die Enkelin noch sehr jung war. Diese frühen Erfahrungen von Verlust und Trauer, die Erlebnisse während des Krieges und der Nachkriegszeit, die aus einer teilweise jüdischen Herkunft resultierende Gefahr während der NS-Diktatur, Angst und Schuldgefühle waren prägend für das Kind. Die Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen und Verletzungen sind oftmals direkt oder verschlüsselt, das eine Mal erkennbar autobiographisch geprägt wie zum Beispiel in Dieda oder Das fremde Kind, das andere Mal literarisch „verfremdet“, aber stets deutlich spürbar, im Werk der Autorin Renate Welsh zu finden. „Das kleine Mädchen, das ich war“, erzählte sie während ihrer Innsbrucker Poetik-Vorlesung, „ist mir durch mein Schreiben und durch die ständige Auseinandersetzung mit anderen Kindern nähergekommen.“
1955 begann Renate Welsh ein Studium der Anglistik, Romanistik (Spanisch) und Staatswissenschaften an der Universität Wien. Ein Jahr später heiratete sie, brach das Studium ab und arbeitete nach der Geburt ihrer drei Söhne als Übersetzerin. Seit Ende der 1960er Jahre schreibt sie Kinder- und Jugendbücher, seit Ende der 1980er Jahre auch Bücher für Erwachsene. In den Siebzigerjahren gehörte sie zusammen mit Mira Lobe, Christine Nöstlinger und einigen anderen zu jener Gruppe engagierter Kinder- und Jugendbuchautorinnen und -autoren, für die Widerständigkeit und Selbstbehauptung, soziales Engagement und Sprachspiel zu den wichtigsten Elementen ihres Schreibens zählten. „Wir kamen aus verschiedenen politischen Richtungen“, erinnert sich Renate Welsh, „aber uns einte das Bedürfnis, Kinderliteratur zu machen, die Mut macht und sagt: Ihr dürft so sein, wie ihr seid. Emanzipatorisch und ohne Zeigefinger. Damals herrschte ja die Meinung vor, Kinderbücher müssen nicht unbedingt literarisch hochwertig sein. Wir sagten, sie müssen umso mehr literarischen Kriterien genügen!“
Seit 1969 sind mehrere Dutzend Kinder- und Jugendbücher sowie zahlreiche Romane und Erzählungen für Erwachsene sowie Übersetzungen aus dem Englischen von Renate Welsh erschienen. Außerdem schrieb sie Hörspiele und fungierte als Herausgeberin.
Seit vielen Jahrzehnten leitet Renate Welsh Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sie macht Lesungen und hält Vorträge im In- und Ausland, auch in solch entfernten Ländern wie zum Beispiel Iran oder Armenien, und ist seit 2006 Präsidentin der Interessensgemeinschaft Österreichischer Autorinnen und Autoren.
Renate Welshs Kinderbuch Das Vamperl, die Geschichte des netten kleinen Vampirs, der Menschen böse Gefühle und Aggressionen aussaugt, und der Jugendroman Johanna über eine junge Frau, die in den 1930er Jahren als Magd unter menschenunwürdigen Bedingungen auf einem Bauernhof in Niederösterreich aufwächst und mit viel Mut für ihre Freiheit und Selbstbestimmung kämpft, beide Bücher das erste Mal 1979 publiziert, sind sowohl Best- als auch Longseller und gelten längst als Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Für Johanna erhielt Renate Welsh den renommierten Deutschen Jugendliteraturpreis für das Jahr 1980. Neben diesem Preis wurden ihr im Laufe der Jahre sehr viele andere zuerkannt, darunter sind, um nur einige zu nennen, der Österreichische Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur für die Jahre 1977, 1978, 1984, 1989, 1997 und 2003, der Kinder- und Jugendpreis der Stadt Wien (ebenfalls mehrfach), der Preis der Stadt Wien für Literatur 2016. Heuer wurde Renate Welsh zusammen mit der aus dem Iran stammenden Autorin Nahid Bagheri-Goldschmied mit dem Theodor-Kramer-Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil ausgezeichnet. „Renate Welshs Texte, gespeist aus einem tiefen differenzierten Wissen um den beklemmenden Geschichtsprozess, sind ein seit Jahrzehnten unablässig formuliertes Plädoyer für Achtung, Respekt, Gerechtigkeit“, heißt es in der Preisbegründung. Dieses Plädoyer ist für sie heute aktueller denn je. „Die Lage“, sagt Renate Welsh, „ist zu ernst und die Herausforderung zu groß, um sich im Pessimismus häuslich einzurichten.“
Das erste Buch, das ich von Renate Welsh las, war der 1994 erschienene Roman Das Lufthaus. Hauptperson dieses historischen Romans, dessen Handlung Mitte des 19. Jahrhundert spielt, ist Pauline, Tochter einer jüdischen Großbürgerfamilie aus Karlsruhe, die den nichtjüdischen österreichischen Studenten Max Gritzner, einen Ur-Urgroßonkel von Renate Welsh, heiratet, nach Wien zieht, zum christlichen Glauben übertritt, sich unterordnet und dennoch nie und nirgendwo wirklich dazugehört. Aufgerieben zwischen Selbstaufgabe, Identitätsverlust, dem schwachen Ehemann, dem dominanten Schwiegervater und dem Wunsch, es allen recht zu machen, den Vorurteilen ihrer Zeit und einem Anspruch, dem sie nicht gerecht werden kann, scheitert Pauline. Sie „sitzt nicht nur zwischen allen Stühlen, sie balanciert verzweifelt auf den Sessellehnen“, schrieb ich damals in meiner Rezension des Romans für die Zeitschrift Mit der Ziehharmonika. Doch „wenn die Lektüre eines Buches […] immer auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst darstellt, so kann ich – nachdem ich Emigration und Außenseitertum selbst erleben musste – nach diesem Buch, trotz und vielleicht gerade wegen der bedrückenden Ereignisse, die es schildert, um eine Spur freier atmen.“ Dies gilt nicht nur für Das Lufthaus, sondern gleichermaßen für andere Bücher von Renate Welsh als Leitmotiv: Welsh erschafft Romanfiguren, die Prototypen im realen Leben haben, Menschen, über die sie recherchiert oder denen sie lange aufmerksam zugehört hat, denen sie mit Empathie und Anteilnahme begegnet ist, Menschen, die als Unbemerkte, oft als Verlierer, in einem gesellschaftlichen Zwischenraum und im inneren Exil leben, die aber auch dann, wenn sie als brüchige und keineswegs immer positive Charaktere beschrieben werden, den aufmerksamen Leserinnen und Lesern dennoch ein Gefühl der Befreiung und nicht der Beklemmung verschaffen: Sei es, weil man in den Figuren verborgene Anteile von sich selbst entdeckt, Eigenschaften und Erfahrungen, deren Benennung befreiend wirkt; sei es, weil weder Haupt- noch Nebenfiguren jemals denunziert werden, sondern mitfühlend, manchmal ironisch und mit Witz, hin und wieder auch mit spürbarem Tadel gezeichnet werden, doch niemals als Typen oder gar Karikaturen, also als reine Träger bestimmter Haltungen oder Charaktereigenschaften.
Dies gilt im besonderen Maße für den 2005 erschienenen Roman Die schöne Aussicht. Das reale Vorbild für die Protagonistin Rosa hat Renate Welsh viele Jahre gekannt. Das jüngste Kind einer Gastwirt-Familie in Wien erlebt Not und Elend der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit aus der Perspektive einer Außenseiterin, deren kleines Glück stets vernichtet wird, ehe es noch richtig angefangen hat: ihr Freund stirbt bei einem Unfall, ihre Lehrherrin, die für sie zu einer Art mütterlichen Freundin geworden ist, muss als Jüdin vor den Nazis flüchten. Gefühlsarmut, Antisemitismus, Alltagsfaschismus prägen die Welt, der so genannten „kleinen Leute“, in der Rosa lebt. Sie selbst ist Opfer dieses Umfelds und wird davon doch auch selbst geprägt. Über politische und soziale Fragen reflektiert sie nicht. Sie hat ihre dunklen Seiten, sie ist stumm, verhärtet, doch gelingt es Renate Welsh den Facettenreichtum von Rosas Charakter darzustellen, aus ihr eine einmalige literarische Figur zu machen und gleichzeitig den Aberwitz und die Abgründe ihrer Zeit zu exemplifizieren und dabei die immerwährende Präsenz der Vergangenheit und ihre Bedeutung für die Gegenwart aufzuzeigen.
Zum Abschluss dieser Würdigung möchte ich auf ein Buch hinweisen, das mir persönlich besonders am Herzen liegt. Es ist 2013 erschienen, heißt Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen und beinhaltet Texte aus der von Renate Welsh seit vielen Jahren geleiteten Schreibwerkstätte für ehemalige Obdachlose, die in der Notschlafstelle VinziRast Corti-Haus in Wien eine Bleibe gefunden haben. Renate Welsh hat das Buch herausgegeben. Sie hat die Texte ausgewählt, redigiert und ein Nachwort geschrieben.
„Ich freue mich über jeden Beitrag, den die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bringen“, erzählt Renate Welsh, „lese ihnen manchmal vor, was sie geschrieben haben. […] Dabei fällt manchmal ein Lichtstrahl in anscheinend undurchdringliches Dickicht. Vor allem aber breitet sich das Zuhören wellenförmig aus, erfasst, wenn ich Glück habe, die ganze Gruppe.“
„Die Wahrheit ist bitter, aber nicht giftig“, schrieb eine der Teilnehmerinnen. Eine andere dichtete: „Dein Herz ist kalt. Warum? Wohin gehst du, kalte Zeit? Ich habe Angst, du kalter Engel.“ In einem anderen Gedicht von ihr heißt es: „Egal, was du bist, Engel oder Teufel, Du bist Ich! Beides, schwarz und weiß. Ich kann dich nicht verlassen.“
„Ausgerechnet Schreiben mit Menschen, die wahrlich andere, existenziellere Sorgen haben?“, fragt die Autorin im Nachwort zu Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen und beantwortet diese Frage sogleich mit einem deutlichen: „Ja, ausgerechnet Schreiben. Weil diese Menschen etwas zu sagen haben, nach dem sie kaum je gefragt wurden, und weil das, was sie zu sagen haben, wichtig ist.“
Eine Teilnehmerin der Schreibwerkstätte brachte es auf den Punkt, als sie Renate Welsh erklärte: „Du machst Fenster auf, wo es keine gibt.“ Das ist ein Satz, der als Metapher für das gesamte Lebenswerk von Renate Welsh verstanden werden kann.
© Vladimir Vertlib