„Wir wissen zu wenig“

„Wenn nur ein großes Gebirge zwischen uns und den Arabern wäre“, jammerte einmal eine Bekannte, die wie meine Eltern und ich aus der Sowjetunion nach Israel ausgewandert war, um dem Antisemitismus zu entfliehen. Über das Brüchige, das Bizarre in Israels Gegenwart.

Von Vladimir Vertlib
04.05.2018 um 18:24

David (sein Name wurde geändert), ein junger israelischer Lyriker, den ich vor einigen Jahren bei einem Autorentreffen in Österreich kennengelernt habe, lebt in Modi’in direkt an der „Grünen Linie“. Der Großteil dieser Stadt befindet sich in Israel, einige Viertel jedoch liegen jenseits der Grenze, im Westjordanland. Wenn man in Modi’in spazieren geht, merkt man davon nichts. Die Mauer, welche „die Gebiete“ von Israel trennt, befindet sich weiter im Osten, auf palästinensischem Territorium, markiert eine Grenze, die viel realer ist als das Völkerrecht.

Zum Spazierengehen lädt die aus gesichtslosen Wohnblöcken bestehende Stadt nicht ein. Vom Gipfel des höchsten Hügels der Gegend sieht man Städte und Dörfer, die längst zusammengewachsen sind, Landschaftswunden: Hier wie in vielen anderen Teilen des Landes, wo sich in meiner Kindheit noch Orangenplantagen oder Felsen, Macchia, Weideflächen befanden, sind heute endlos scheinende Schlafstätten – und mittendrin die Mauer. Der Raum ist eng und wird immer enger, diesseits und jenseits der realen und der fiktiven Grenzen. 35 Kilometer sind es vom erst 1993 gegründeten Modi’in, das heute schon 90.000 Einwohner zählt, bis Tel Aviv, 30 Kilometer bis Jerusalem.

Davids Ehefrau arbeitet dort in einer Buchhandlung. David unterrichtet Kreatives Schreiben an einer kleinen Hochschule in Sderot. Dies ist der Ort, den die Hamas seit Jahren regelmäßig mit Raketen beschießt. Er liegt an einer anderen Grenze, jener zum Gaza-Streifen. Von Grenze zu Grenze ist es nicht weit. David pendelt. Etwas mehr als eine Stunde braucht er mit dem Auto, um Israel zu durchqueren. Bei Raketenalarm läuft er mit den Studierenden, die in seinem Kurs sind, in den Bunker im Keller der Uni. Das ist längst Alltag und ängstigt ihn wenig.

David und seine Frau sind linke Intellektuelle, gebildet, weltoffen. Beide waren in der Armee und haben ihren Einsatz im Westjordanland als Schande erlebt, beide lehnen die Besatzungspolitik und die neoliberale Ideologie der israelischen Regierung ab. Und beide begleiten meine Frau und mich nicht in den arabischen Teil der Jerusalemer Altstadt, weil sie das als jüdische Israelis für zu gefährlich halten.

Stattdessen treffen wir uns in einem Kaffeehaus im jüdischen Westteil der Stadt. Es ist März, Pessach und Ostern fallen in diesem Jahr zusammen, die Stadt ist ein Hexenkessel. Christliche Pilger und orthodoxe Juden suchen voller Ekstase die Nähe zu Gott, ignorieren einander aber völlig. „Ostern? Was feiern die Christen eigentlich zu Ostern?“, fragt David. Ich bin fassungslos. „Du bist Israeli, hast mit deiner Frau jahrelang in Jerusalem gelebt und weißt nicht, was Ostern ist?“ Seine Frau weiß es auch nicht. „Wir lernen zu wenig, wir wissen zu wenig“, sagt sie und lacht bitter. „Wir sehen die anderen nicht, wir sind zu sehr mit uns selbst beschäftigt, das ist traumatisch genug.“

Als David Ben-Gurion, der erste Regierungschef, am 14. Mai 1948 in Tel Aviv feierlich die Unabhängigkeit des Landes verkündete, war der Krieg, der als Unabhängigkeitskrieg in die Geschichte eingehen würde, längst im Gange. Seit Ende 1947 kämpften jüdische und arabische Freischärler in Palästina gegeneinander; nun würde Israel, eben erst gegründet, von den regulären Armeen aller seiner Nachbarstaaten angegriffen werden, den Krieg, der bis 1949 dauern würde, aber dennoch gewinnen. Hätte Israel nicht gesiegt, wäre seine jüdische Bevölkerung vernichtet, bestenfalls vertrieben worden. Das wusste jeder, Israels Feinde machten nie einen Hehl daraus. Mehrere weitere Kriege sollten folgen, so viele verlustreiche, traumatisierende, dass für jeden Israeli die Zeit „vor dem Krieg“ und „nach dem Krieg“ jeweils – abhängig vom Alter und den Erfahrungen des Einzelnen – auf einen anderen Krieg verweisen kann. Jeder hat „seinen“ Krieg, der im schlimmsten Fall zum Maß aller Dinge wird. Dennoch ist Israel bei Weitem nicht der enge, provinzielle Staat, wie die obige Geschichte suggeriert. In den vergangenen 70 Jahren entwickelte er sich von einem armen Schwellenland, welches Shoah-Überlebenden und den in den Vierziger- und Fünfzigerjahren aus arabischen Ländern massenweise vertriebenen Juden als Refugium diente, zu einem der fortschrittlichsten Industriestaaten der Welt, führend im Hightech-Bereich, und dies trotz Massenzuwanderung, permanentem Ausnahmezustand, Krieg, Terror, dem irrationalen Hass, mit dem dieser Staat immer wieder konfrontiert ist, und weitgehender Isolation in der Region.

Die sowohl erschreckenden als auch beschämenden Wissenslücken von David und seiner Frau haben vielleicht dennoch etwas Stimmiges, beinahe Exemplarisches.

„Solange in einem Herzen noch eine jüdische Seele wohnt und nach Osten hin, vorwärts, ein Auge nach Zion blickt, so lange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, 2000 Jahre alt, zu sein ein freies Volk, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem!“ So weit der Text der israelischen Hymne. Der Zionismus ist eine Befreiungsideologie. Er verspricht jenen, die jahrhundertelang bedroht, verfolgt und fremdbestimmt waren, die Freiheit. Vor allem aber verspricht er den Angehörigen einer Minderheit, die stets am Rande gestanden ist und sich auf die eine oder andere Weise mit ihrer Umgebung arrangieren und auf diese Rücksicht nehmen musste, ins Zentrum zu rücken und maßgeblich zu werden. Für viele Juden, die nach Israel auswanderten, bestand die „Befreiung“ unter anderem auch darin, sich nicht mehr mit den Lebenswelten und Befindlichkeiten von Nichtjuden auseinandersetzen zu müssen – etwas, was für sie in der Diaspora überlebenswichtig gewesen war, während sie selbst von der Mehrheitsbevölkerung oftmals nur als lebende Klischees und als Projektionsfläche für negative Gefühle wahrgenommen wurden. Bedenkt man diesen Hintergrund, ist eine von jüdischen Israelis dem Jerusalem der Christen und Moslems entgegengebrachte Ignoranz nicht unbedingt chauvinistisch oder engstirnig, sondern, wiewohl zu Recht kritisierbar, oft Ausdruck einer nachvollziehbaren Rückbesinnung und Selbstvergewisserung.

Doch dafür ist der Nahe Osten keinesfalls der ideale Ort. „Wenn nur ein großes Gebirge zwischen uns und den Arabern wäre“, jammerte einmal eine Bekannte, die wie meine Eltern und ich in den Siebzigerjahren aus der Sowjetunion nach Israel ausgewandert war, um dem Antisemitismus und permanenten Diskriminierungen zu entfliehen. „Wie schön wäre es, wenn wir auf unserer und die Araber auf ihrer Seite der Berge bleiben könnten: Sollen sie dort reich und glücklich werden, Hauptsache, sie sind weit weg und lassen uns in Ruhe.“ Mit Sicherheit denken viele Palästinenser dasselbe über Juden . . .

Den Gründervätern Israels, ob nun dem Erfinder des modernen Zionismus, Theodor Herzl, oder dem ersten Staatspräsidenten des Landes, Chaim Weizmann, ob linken Politikern wie David Ben-Gurion oder Rechten wie Ze’ev Jabotinsky war die Ambivalenz ihres Projektes sehr wohl bewusst. Einerseits wollte man einen Staat, der jüdisch und ein Nationalstaat sein sollte, andererseits musste es ein Staat sein, der auf humanistischen Prinzipien aufgebaut, minderheitenfreundlich, weltoffen und fortschrittlich wäre. Man wollte also so „normal“ werden wie die Nichtjuden und dennoch anders als sie, also „besser“ sein, weil man selbst einmal Minderheit war, weil man selbst seit ewigen Zeiten verachtet und verfolgt wurde. Steht denn nicht sogar in der Bibel der fast 3000 Jahre alte Satz: „Er [der Fremde] soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägypten“? Dies wäre schon ein hoher Anspruch gewesen, wenn der jüdische Staat nicht im Nahen Osten, sondern in einer menschenleeren Gegend geplant worden wäre. Doch Theodor Herzl hat sich wie die meisten Zionisten für die „Rückkehr“ in die ursprüngliche Heimat entschieden. Die emotionale Bindung des jüdischen Volkes zum „Gelobten Land“ war in zwei Jahrtausenden der Diaspora niemals abgerissen.

Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten, ein moderner Rechtsstaat, in dem jedoch gefoltert und permanent das Völkerrecht gebrochen wird. Israels Gesetze zum Schutz von Minderheiten gehören zu den besten der Welt, die Gleichberechtigung von Schwulen, Lesben und Heterosexuellen ist sowohl dem Gesetzgeber als auch der liberalen Öffentlichkeit ein besonderes Anliegen, religiöse und ethnische Minderheiten – darunter natürlich auch Moslems und Araber – haben einen Grad an kultureller Autonomie wie kaum in einem anderen Land, und Frauen, die sexuelle Übergriffe erleiden, haben gute Chancen, ihren Peiniger ins Gefängnis zu bringen, selbst dann, wenn dieser, wie vor einigen Jahren geschehen, der Staatspräsident ist.

Doch Israel ist auch ein Land, in dem es keine Zivilehe gibt, in dem am Schabbat keine öffentlichen Verkehrsmittel fahren und orthodoxe Juden und ihre Parteien stets entscheidenden Einfluss auf das öffentliche Leben und die Politik haben. David Ben-Gurion hatte, obwohl selbst ein säkularer Mensch, eine gesetzliche Trennung von Staat und Religion verhindert. Dadurch, so glaubte er, ließen sich ultrareligiöse Gruppierungen durch den Staat besser kontrollieren. 70 Jahre später ist die Realität eine andere: Religiöse Fundamentalisten kontrollieren in zunehmendem Maße den Staat, nicht umgekehrt.

Israel ist ein Land, das von Menschen gegründet wurde, die verfolgt und vertrieben und deren Angehörige ermordet worden waren. Eine neue Heimat konnten sie sich aber erst erkämpfen und aufbauen, als sie selbst große Teile der arabischen Bevölkerung des Landes vertrieben hatten und Geflüchtete nicht mehr zurückkehren ließen. Israels Gegner agierten allerdings noch viel schlimmer: Wenn arabische Truppen 1948 auf dem Vormarsch waren, wurden jüdische Zivilisten vertrieben oder getötet – alle. Das jüdische Viertel in Jerusalems Altstadt wurde völlig zerstört, Juden bis zum Sechstagekrieg 1967 der Zutritt zur Klagemauer verwehrt.

War die Vertreibung Hunderttausender Palästinenser für den eben erst gegründeten jüdischen Staat eine Notwendigkeit, um zu überleben? Es gibt Israelis, sogar Historiker, die dies behaupten. Ich selbst glaube nicht, dass es für ethnische Säuberungen eine Rechtfertigung geben kann, Palästinenser haben das Recht auf eine Heimat. Doch wie kritisch ich die Geschichte Israels auch bewerten mag: Ich bin sehr froh, dass dieses Land existiert. Für uns Juden bleibt es weiterhin ein potenzieller Fluchtraum, unsere Lebensversicherung. Dass viele französische Juden heute nach Israel auswandern, weil sie in Frankreich durch Antisemitismus und Terror bedroht sind, beweist es. Ohne israelischen Druck hätten sowjetische Juden – wie meine Eltern und ich – niemals in den Westen ausreisen dürfen. Doch es waren in erster Linie orientalische Juden, für die Israel seit Ende der Vierzigerjahre jenes Land war, in dem sie Schutz fanden, ein Land, in dem sie jedoch jahrzehntelang als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden.

Es gibt kaum einen Aspekt israelischer Geschichte und Gegenwart, der nicht brüchig, ambivalent oder bizarr wäre. Als ich in den Siebzigerjahren in Israel zur Schule ging, wurden wir Kinder dazu angehalten, das Pluszeichen als umgedrehtes T zu schreiben. So stand es auch in unseren Schulbüchern. Auf keinen Fall sollte dieses mathematische Zeichen an ein Kreuz, das Symbol des Christentums, erinnern. Ist es dann noch verwunderlich, dass David und seine Frau nicht wissen, was Christen zu Ostern feiern?

Immerhin hat sich seit dieser Zeit vieles zum Besseren geändert. Die politische Lage mag seit Jahrzehnten ausweglos erscheinen, doch gibt es – trotz Hass und scheinbar nie enden wollender Gewalt – immer mehr Menschen, die sich in erster Linie als Israelis und dann erst als Juden oder Araber, Moslems oder Christen betrachten. Das und vieles andere macht immerhin Hoffnung für die nächsten 70 Jahre. ■

© Vladimir Vertlib

Vladimir Vertlib, geboren 1966 in Leningrad, UdSSR. 1971 Emigration der Familie nach Israel, 1981 Übersiedlung nach Österreich. Studium der Volkswirtschaftslehre. Lebt als Autor in Salzburg. 2015 bei Deuticke: der Roman „Lucia Binar und die russische Seele“.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 05.05.2018)

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