Vor 100 Jahren: das Wunder an der Weichsel
Publiziert am 08.08.2020 um 15:50, in: „Die Presse“, Wien, „Spectrum“, S. III
von Vladimir Vertlib
Im August 1920 gelingt es einer polnischen Einheit bei Warschau, die Rote Armee zum Rückzug zu bewegen. Meine Großmutter ist zwölf, als sie aus ihrem weißrussischen Dorf fliehen muss. Nachrichten aus dem Polnisch-Sowjetischen Krieg.
Im Jahre 1920 war meine Großmutter zwölf Jahre alt. Eines Tages hatte die polnische Besatzungsmacht Ljudenewitschi, das weißrussische Heimatdorf meiner Großmutter, geräumt, die Rote Armee war aber noch nicht nachgerückt. Das Interregnum nutzten die „Truppen“ der so genannten „Russischen Freiwilligen Volksarmee“ unter der Führung von Stanislaw Bulak-Balachowitsch für Plünderungen und für ein Judenmassaker. Balachowitsch, im Ersten Weltkrieg Offizier der Russischen Armee, kämpfte im Bürgerkrieg zuerst für und dann gegen die Bolschewiken, im Polnisch-Sowjetischen Krieg für Polen, zwischendurch und danach aber vor allem für sich selbst.
Die Familie meiner Urgroßeltern und einige andere Juden flohen vor der „Balachowitsch-Bande“ (so nannte sie meine Großmutter) in das Haus des Grundbesitzers Ljubimow, dem das Dorf gehörte. Als die Mörder sein Haus stürmten, stellte sich Ljubimow vor „seine“ Juden, zerriss theatralisch das Hemd auf seiner Brust und schrie: „Das sind alles meine Kinder! Bevor ihr sie tötet, müsst ihr mich erschießen. Hier ist meine nackte Brust, schießt!“ Meine Großmutter begann zu weinen. Die Mörder zögerten. Schließlich sagte Balachowitsch zu Ljubimow mit dem Blick auf meine Großmutter: „Beruhigen Sie Ihre Tochter!“ und zog mit seinen Männern ab. Die Juden im Haus waren gerettet. Jene, die im Dorf geblieben waren, hatten weniger Glück.
Diese Familienlegende klingt sehr nach Hollywood, dürfte sich damals aber durchaus genau so zugetragen haben. Was in jener düsteren Epoche geschah, schwankte zwischen Irrwitz und Pathos, zwischen Leidenschaft, Idealismus und unvorstellbarer Brutalität. Auf dem Gebiet des Russischen Reiches und seiner Nachfolgestaaten herrschte von 1914 bis 1923 fast permanent Krieg, Revolution und Bürgerkrieg. Millionen von Menschen starben als Soldaten an diversen Fronten, noch mehr jedoch verhungerten, wurden ausgeplündert, verstümmelt, ermordet, als „Feinde“ hingerichtet oder Opfer der Spanischen Grippe und anderer Krankheiten. Etwa 150.000 Juden wurden bei Pogromen ermordet.
Der Krieg zwischen der Republik Polen und Sowjetrussland im Jahre 1920 war neben dem Russischen Bürgerkrieg einer der vielen „kleineren“ Kriege, die vor hundert Jahren unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg auch außerhalb Russlands stattfanden, neue Grenzen festlegten oder neue Staaten entstehen ließen. Fast alle dieser Kriege hatten weitreichende, bleibende Folgen, die noch heute nachwirken, und doch sind die meisten von ihnen (fast) vergessen. Der Kärntner Abwehrkampf gehörte genauso zu diesen Kriegen wie der Irische Unabhängigkeitskrieg, der türkisch-griechische Krieg, der finnische Bürgerkrieg, die Unabhängigkeitskriege Lettlands, Litauens und Estlands gegen Sowjetrussland, der Krieg zwischen Polen und der kurzzeitig unabhängigen Westukrainischen Volksrepublik, zwischen Ungarn und Rumänien, der kurze polnisch-tschechoslowakische Krieg (ja, einen solchen gab es auch – 1919!), die japanische Intervention in Ostsibirien, die Feldzüge der Roten Armee in Transkaukasien und Zentralasien und noch einige Kriege mehr.
Der polnisch-sowjetische Krieg war wohl der aus mehreren Gründen dramatischste von allen. Er half beiden Ländern, sich zu konsolidieren, und endete doch für beide mit einer Niederlage.
Am 30. Mai 1920 erschien in der kommunistischen „Prawda“ in Moskau ein Aufruf mit dem Titel „An alle Offiziere, wo immer sie sein mögen“. Die ehemaligen zaristischen Offiziere, auch jene, die gegen die Bolschewiken im Bürgerkrieg gekämpft hatten, sollten sich mit der Sowjetmacht versöhnen und in die Rote Armee eintreten, stand dort. Die Heimat sei in Gefahr! Nun sei es an der Zeit, gemeinsam gegen einen äußeren Feind vorzugehen. Der gemeinsame Feind war Polen – die polnischen Truppen hatten am 7. Mai Kiew erobert und waren in der Ukraine und in Weißrussland auf dem Vormarsch. Der Verfasser des Aufrufs war kein geringerer als Alexej Brussilow (1853-1926), ehemals Angehöriger des Hochadels, ehemals General und Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte im Ersten Weltkrieg, brillanter Stratege, bekannt vor allem für seine „Brussilow-Offensiven“ der Jahre 1916 und 1917. Brussilow selbst war kurz zuvor in die Rote Armee eingetreten. Sein Aufruf war für die einen ein Schock, für andere wirkte er befreiend. Tausende ehemalige zaristische Offiziere, Technokraten und Militärexperten, darunter sogar Gefangene in sowjetischen Lagern, meldeten sich freiwillig und zogen nun als Angehörige der Roten Armee gegen den russischen Erzfeind Polen in den Kampf. Dies trug entscheidend zur Wende in diesem Krieg bei und half bei der Konsolidierung des kommunistischen Regimes.
Polen war im November 1918 als selbstständiger Staat wiederauferstanden. Bald schon träumte der „Chef des polnischen Staates“, Marschall und spätere Diktator Jósef Piłsudski (1867-1935) von einem „Groß-Polen“, das von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichen sollte. Die Wiederherstellung der alten polnisch-litauischen Großmacht des 16. und 17. Jahrhunderts war gleichermaßen unrealistisch wie größenwahnsinnig. Piłsudski fantasierte gar von einer polnischen Einflusssphäre „von Finnland bis zu den Bergen des Kaukasus“.
Obwohl sich Polen mit der Armee des ukrainischen Ultranationalisten Symon Petljura verbündet hatte, war die geplante Eroberung der Ukraine zum Scheitern verurteilt. Genau genommen hatten Polen und Sowjetrussland schon seit Anfang 1919 Krieg gegeneinander geführt, doch erst am 24. April 1920 startete das polnische Heer seine Hauptoffensive gegen Sowjetrussland. Die Gegenoffensive der Roten Armee erfolgte Anfang Juni. Am 12. Juni wurde Kiew zurückerobert. Am 11. Juli folgte die Rückeroberung der weißrussischen Hauptstand Minsk, am 14. Juli marschierte die Rote Armee in Vilnius ein, am 1. August in Brest-Litowsk, am 12. August stand sie vor Warschau. Die Front bewegte sich schneller als viele polnische Soldaten davonlaufen konnten. Zehntausende gerieten in Gefangenschaft. Im Süden marschierte die sowjetische Reiterarmee unter ihrem legendären Kommandeur, späterem Marschall und Held der Sowjetunion Semjon Budjonny in Galizien ein und belagerte Lemberg. Die polnische Niederlage schien unabwendbar. Die sowjetische Führung unter Lenin und Trotzki plante schon, die kommunistische Revolution ins Zentrum Europas zu tragen. Nach der Eroberung und Sowjetisierung Polens würden Deutschland und andere europäische Länder folgen. Aufgeschreckt durch die „rote Gefahr“ schickten die USA und Frankreich militärische Ausrüstung und Berater nach Warschau.
Als Mitglied der französischen Militärmission in Polen nahm damals ein junger französischer Offizier an diesem Krieg teil, der einmal berühmt werden sollte: Charles de Gaulle, der spätere französische Nationalheld und Staatspräsident, erhielt für seine Tapferkeit im Jahre 1920 den höchsten polnischen Orden – Virtuti Militari. Übrigens war Charles de Gaulle mit seinem Gegner, dem sowjetischen Oberbefehlshaber in diesem Krieg, Michail Tuchatschewski, befreundet. Im Ersten Weltkrieg waren sowohl der junge französische als auch der junge russische Offizier in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und 1916-1917 zusammen in der Festung Ingolstadt interniert gewesen.
Tuchatschewski, ehemals Musterkadett adeliger Herkunft im Dienste des Zaren, später erster Marschall der Sowjetunion, 1937 vom Stalin-Regime als „Verräter“ hingerichtet, bald nach Stalins Tod posthum rehabilitiert und zur sowjetischen Ikone stilisiert, war 1920 erst 27 Jahre alt. In der Roten Armee hatte der ehrgeizige und hochbegabte „rote Napoleon“, wie er genannt wurde, eine rasante Karriere gemacht.
Man darf sich die Kriege in Russland und Ostmitteleuropa jener Zeit nicht wie den Ersten Weltkrieg vorstellen. Dafür fehlten allen Beteiligten in Zeiten des Zusammenbruchs von Wirtschaft und Infrastruktur die Mittel und die technische Ausstattung. Vielmehr wirkten die damaligen Kampfhandlungen genauso bizarr wie die heutigen Kämpfe paramilitärischer Einheiten in „Failed States“ wie Somalia oder Libyen. Sind es heute zu Militärfahrzeugen umgebaute Geländewagen und PkW, die statt Panzern ins Gefecht fahren, war es damals (wieder) die Kavallerie, deren Reiter mit Lanzen (sic!), Säbeln und Beiwagen mit Maschinengewehren ausgestattet, in die Schlacht zogen. Diese Reiterarmeen wurden allerdings oft mit der Bahn von Front zu Front transportiert und von Flugzeugen, manchmal von schwerer Artillerie, Infanterie und zeitweise auch von gepanzerten Zügen unterstützt. Das gab diesen Kriegen etwas gleichsam Hybrides wie Anachronistisches, aber auch Verwegenes und Suggestives. Neunzehn Jahre später, im September 1939, würden polnische Ulanen hoch zu Ross, mit Lanzen und gezogenen Säbeln gegen die Panzer der Wehrmacht anreiten. Die fatalen Folgen dieser tollkühnen Aktionen sind bekannt…
Der aus Odessa stammende russisch-jüdische Schriftsteller Isaak Babel erlebte diesen Krieg als Kriegsberichterstatter in den Reihen der sowjetischen Kavallerie. Er führte Tagebuch, auf dessen Grundlage er später den dokumentarischen Roman „Die Reiterarmee“ verfasste – einen eindrücklichen Bericht über den Wahnsinn des Krieges in einer zusammenbrechenden Welt. Über den Feldzug in Galizien im Sommer 1920 schreibt er: „Abgeholzte Wälder, alles verunstaltet, Galizier auf den Straßen, österreichische Uniformen. Barfuß mit Pfeifen im Mund. Was steht in ihren Gesichtern? Irgendein Geheimnis der Nichtswürdigkeit, der Gewöhnlichkeit und Unterwürfigkeit. […] Jammergestalten. Stacheldraht auf Pfählen. Zerschlissene, gähnende Juden, zerstörte Straßen, geschändete Kruzifixe, ein unbegabtes Land, verwüstet die katholischen Gotteshäuser. Wo sind die Priester?“ Geflohen, deportiert, ermordet… Was hier geschah, war nur ein Vorgeschmack auf die viel größere Katastrophe, die sich zwanzig Jahre später ereignen sollte.
Mitte August hatte die Rote Armee die Weichsel überschritten. Der Fall Warschaus stand, wie allen schien, unmittelbar bevor, doch es kam anders. Tuchatschewski versuchte die Stadt einzukreisen, stieß auf wenig Widerstand, verlängerte aber dadurch die Front, dünnte einzelne Abschnitte aus und lief so Pilsudski in die Falle. Mit einem massierten Angriff polnischer Elitetruppen unter direkter Führung Pilsudskis an der Südflanke, der schwächsten Stelle der sowjetischen Front bei Warschau, wurde diese am 16. August durchbrochen. Um einer Einkesselung zu entgehen, musste die Rote Armee den Rückzug antreten: das „Wunder an der Weichsel“ für die einen, eine Katastrophe für die anderen. Dass die Führung der sowjetischen Südwestfront, die von Budjonny und Stalin geleitet wurde, den Befehl missachtete, die Reiterarmee nach Warschau zu schicken, sondern stattdessen die Belagerung Lembergs fortsetzte, trug zur Niederlage bei.
Der Rückzug der Roten Armee erfolgte genauso schnell wie zuvor ihr Vormarsch. Im September war die Front wieder in Weißrussland und der Ukraine. Am 12. Oktober 1920 wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet. Der „Frieden von Riga“ beendete am 18. März 1921 offiziell den Krieg. Die Ukraine blieb größtenteils sowjetisch, Galizien und das westliche Weißrussland verblieben bei Polen: dies war im Wesentlichen die Ausgangslage des Feldzugs im Frühjahr 1920 gewesen. Groß-Polen war eine Illusion, das „Wunder an der Weichsel“ wurde aber zu einem der Gründungsmythen des modernen polnischen Staates. Die kommunistische Weltrevolution fand nicht statt, die Angst davor und vor einer sowjetischen Invasion förderte jedoch den Aufstieg des Faschismus in Europa. Mehr als 100.000 Soldaten und noch mehr Zivilisten waren in diesem Krieg umgekommen.
Meine Großmutter hatte Glück: sie überlebte diese und die anderen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, einschließlich Stalinzeit und Leningrader Blockade, und starb 1993 in St. Petersburg. Großgrundbesitzer Ljubimow, der ihr und ihrer Familie das Leben gerettet hatte, wurde noch in den 1920er Jahren von Unbekannten ermordet. Der Schriftsteller Isaak Babel wurde 1940 während der Stalin’schen „Säuberungen“ hingerichtet. Und Stanislaw Bulak-Balachowitsch? Er flüchtete nach Polen, war General der polnischen Armee, später Widerstandskämpfer gegen die deutschen Besatzer und wurde 1940 in Warschau von den Nazis erschossen.
© Vladimir Vertlib