Der Rotz des Lebens

Online am 26.03.2021 um 18:22

von Vladimir Vertlib

in: „Die Presse“, Wien, „Spectrum“, S. IV, Printausgabe vom 27. März 2021


Bruno Jasieńskis 1936 entstandene satirische Novelle „Die Nase“ ist eine Metapher über Rassenwahn und Antisemitismus. Die Neuübersetzung des vergessenen Buches beweist seine Aktualität.

Im Jahre 1936 veröffentlichte der polnisch-russisch-jüdische Autor Bruno Jasieński eine Novelle mit dem Titel „Die Nase“. Der Inhalt dieser in der Sowjetunion auf Russisch erschienenen satirischen Metapher über Rassenwahn und Antisemitismus ist für die damalige Zeit gleichermaßen aktuell wie provokant gewesen. Die Hauptfigur, Doktor Otto Kallenbruck, Professor für Eugenik und Rassenkunde im nationalsozialistischen Deutschland der 1930er Jahre, hat eine Reihe aufsehenerregender Publikationen vorzuweisen, darunter „über den Nutzen der Sterilisierung, über die rassischen Ursachen der Sozialpathologie des Proletariats“ und vor allem über „die typischen Merkmale der semitischen Nase als einer klar ausgeprägten Minusvariante und über den Einfluss der Nasenform auf die seelischen Eigenarten des Judentums“. Demzufolge kann man sich das Entsetzen des Professors vorstellen, als er eines Tages beim Blick in den Spiegel eine gravierende Veränderung, eine gebogene, eindeutig jüdische Nase nämlich, in seinem Gesicht entdeckt. Ist es ein Traum? Eine optische Täuschung? Doch ist er nicht der Einzige, der diese Nase sieht und sie als typisch jüdisch identifiziert. So mutiert der Musterarier Kallenbruck durch die Aussagekraft seines Nasenbogens von einem Augenblick auf den anderen zum jüdischen Untermenschen und kann die Folgen der von ihm selbst entwickelten rassistischen Theorien am eigenen Leib erfahren, was zu einer Reihe gleichsam amüsanter wie aberwitziger Verwicklungen führt…

Heute, 85 Jahre nach der Erstveröffentlichung, wird „Die Nase“ nun in der äußerst stimmigen deutschen Übersetzung von Elisabeth Namdar als eigenes Buch publiziert. Der Autor der Novelle war in der Sowjetunion und in Polen eine Zeitlang sehr populär, ist hierzulande aber leider immer noch ein Unbekannter. Dabei ist das Werk dieses ambivalenten und in vielerlei Hinsicht transkulturellen Schriftstellers absolut lesenswert, seine Biographie spannend und ungewöhnlich. Bruno Jasieński wurde am 17. Juli 1901 im Städtchen Klimontów im Bezirk Sandomierz, der damals zum Russischen Reich gehörte, als Pole mit jüdischen Wurzeln geboren – sein Vater, ein jüdischer Landarzt, hatte eine polnische Adelige geheiratet und war im katholischen Polen zum evangelischen Christentum konvertiert. Nachdem sich Polen in den 1920er Jahren in zunehmendem Maße zu einem autoritären Staat entwickelt hatte, ging Jasieński ins Exil nach Frankreich, wurde dort zu einem Polnisch schreibenden, linken Autor und kommunistischen Aktivisten und verfasste sein bis dato wohl wichtigstes Werk: „Pest über Paris“. 1929 wurde er von den französischen Behörden als Unruhestifter ausgewiesen. Der Weg nach Polen war ihm verwehrt, Deutschland nahm ihn nicht auf, und so reiste er in die Sowjetunion weiter. Dort wurde er mit großen Ehren empfangen und sowohl vom Publikum als auch von den Machthabern gefeiert. Er wurde Leitungsmitglied im Schriftstellerverband der UdSSR und später sogar Mitglied des Obersten Sowjets von Tadschikistan. Seine literarischen Texte schrieb er fortan nicht mehr auf Polnisch, sondern auf Russisch. In der Sowjetunion dürfte der Flüchtling, unstete Aktivist und multikulturelle Autor endlich eine Heimat gefunden haben. Doch waren es die Stalin hörigen Kommunisten, die Jasieński 1937 verhafteten, einer antisowjetischen Verschwörung bezichtigten, folterten, falsche Geständnisse erzwangen, zum Tode verurteilten und 1938 ermordeten. Vor seiner Festnahme hatte Jasieński allerdings selbst Stalins Terror-Regime und dessen Politik befürwortet und unterstützt.

Jasieńskis Frau, die russische Schriftstellerin Anna Bersin, überlebte siebzehn Jahre Lagerhaft und Verbannung. Sein Sohn wuchs in einem Kinderheim auf. Wie viele andere Opfer der Stalin´schen Säuberungen wurde Jasieński einige Jahre nach Stalins Tod posthum rehabilitiert. Seine Bücher durften wieder publiziert werden, eines davon, „Ein Mensch wechselt seine Haut“, wurde in der Sowjetunion sogar zweimal verfilmt. In den letzten Jahrzehnten ist es in Russland jedoch wieder stiller um den einst gefeierten Autor geworden. Auch im heutigen Polen wird er aufgrund seiner kommunistischen Gesinnung weitgehend ignoriert.

Warum sollte man Jasieński heute lesen, und was macht vor allem sein kurzes Prosastück „Die Nase“ so wertvoll? Die Figurenzeichnung ist es sicher nicht. Professor Kallenbruck ist ein Typus und kein differenziert gezeichnetes Individuum aus Fleisch und Blut, ein bizarrer Jedermann aus dem intellektuellen Hinterzimmer der braunen Geistlosigkeit, so wie alle anderen Figuren bestenfalls eine bewusst minimalistisch gehaltene Kulisse in einem Kabarettprogramm darstellen. Die Anspielung auf Gogols berühmte gleichnamige Erzählung aus dem Jahre 1836 ist stimmig, geistreich und – nett. Gogols „Petersburger Erzählungen“, darunter „Die Nase“, sind eine geniale Mischung aus psychologischen Skizzen mit abgründigen Einsichten und tiefenpsychologischen Charakterzeichnungen, die den Vorstellungen und Erklärungsmustern ihrer Zeit weit voraus sind, aus bissiger Zeitkritik und Gesellschaftssatire, aus Schauermärchen und surrealer Blödelei, die zwar nie zufällig ist, in die man aber auch nicht zu viel hineininterpretieren sollte. Gogols „Nase“ ist eine der treffendsten Darstellungen einer gespaltenen Persönlichkeit in der Weltliteratur, wobei diese Spaltung – und das ist das Großartige daran – nicht nur auf eine persönliche Verstörung oder gar Krankheit, sondern auf die gesellschaftliche Heuchelei, Ignoranz und Beliebigkeit zurückzuführen ist. In Gogol ist viel von E.T.A. Hoffmann, in dessen Tradition er steht, aber auch viel von Kafka, den er vorwegnimmt. Kowaljow, Gogols Hauptfigur in „Die Nase“, ist gespalten, weil er das einmalige Individuum Kowaljow ist, aber auch, weil er ein typischer russischer Beamter seiner Zeit und somit so wie alle anderen ist. Die Nase des Beamten Kowaljow wird abgeschnitten, spaziert danach in der Uniform eines Staatsrats unbehelligt durch St. Petersburg und wird erst dann festgenommen und ihrem Besitzer zurückgebracht, als sie einen gefälschten Pass vorweist. Uniformen, Pässe und ein entsprechend souveränes Auftreten (die Nase wirkt in der Tat sehr selbstsicher und gibt sich herrisch) machen eine Persönlichkeit aus. Diese kann dabei in Wirklichkeit nichts weiter als eine Nase sein, solange Kleidung und Papiere stimmen… All diese Motive greift Jasieński auf, interpretiert sie seiner Zeit entsprechend und kehrt sie – und das ist das eigentlich Amüsante und Glänzende an der von ihm konstruierten Geschichte – ins Gegenteil! Waren es bei Gogol Uniform und Pass, die den Wert der Nase definierten, ja, sogar vergessen ließen, dass es sich um einen ihrem Besitzer entflohenen Körperteil handelte, so sind es nun bei Jasieński die Form und die vermeintliche „rassische“ Herkunft der Nase, die ihren Wert und den ihres Besitzers definieren, was aber im Gegensatz zu Gogol wiederum nur dann funktioniert, wenn allen bewusst ist, dass es sich um eine Nase handelt. Diesmal muss sich die Nase nicht selbstständig machen, Name und Titel usurpieren und ihre eigentliche Identität vergessen machen. Die Abspaltung erfolgt innerhalb der Persönlichkeit; die Nase bleibt nichts weiter als der optische Ausdruck eines vermeintlichen Merkmals und somit das im wahrsten Sinne des Wortes Fleisch gewordene Vorurteil. Den totalitären Vorstellungen seiner Zeit folgend (Jasieńskis „Die Nase“ erschien 1936, also exakt hundert Jahre nach der Publikation von Gogols „Die Nase“), muss die Nase nicht flüchten. Flucht ist aussichtslos. Durch die Veränderung der Nasenform verändert sich die Identität ihres Besitzers. Den „gefälschten Pass“ trägt er im Gesicht, nur dass es diesmal niemanden interessiert, dass es sich um eine Fälschung handelt. Beide „Nasen“, die von 1836 und die von 1936, setzen sich bitter und satirisch mit Regimen und Gesellschaftsmodellen auseinander, die auf Lügen, Illusionen und dem Fehlen echter Menschlichkeit basieren. „Die Nase“ ist Faschismus- und Totalitarismuskritik zugleich, sie zielt bewusst auf das nationalsozialistische Deutschland ab, vieles jedoch lässt sich mehr oder weniger direkt auch auf den Stalinismus, den Aberwitz des Massenterrors und des staatlich verordneten, so genannten „Klassenkampfes“ übertragen. Ob Jasieński dies beabsichtigt hatte, muss offen bleiben.

            Lässt man all diese Überlegungen beiseite, bleibt uns, den Nachgeborenen, die verblüffende Erkenntnis, wie hellsichtig, um nicht zu sagen hellseherisch, der Autor schon Mitte der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts gewesen ist. Das Faszinierende ist ja in der Tat, dass „Die Nase“ in ihrer vermeintlich satirischen Überzeichnung ziemlich genau die weitere Entwicklung des Nazi-Regimes vorwegnahm: von den Nürnberger Rassengesetzen, die Jasieński bekannt waren, über den Wunsch nach völliger Ausgrenzung und physischer Vernichtung von Menschen jüdischer Herkunft bis zur Vernichtung unwerten Lebens (was einige Jahre später im „Euthanasie“-Programm tatsächlich umgesetzt werden würde). Wieder einmal zeigt es sich, dass jeder der sehen und hören wollte, auch hören und sehen konnte, welche Dimension der Barbarei sich in Deutschland gerade entwickelte.

Beeindruckend und beklemmend sind Jasieńskis Verständnis für die hinter der Rassenlehre, der Eugenik und vergleichbarer pseudowissenschaftlicher Forschung liegende Unmenschlichkeit, aber auch die unfreiwillige Komik. Die Fähigkeit, über menschenverachtendes Gedankengut zu lachen und dieses ad absurdum zu führen, war und ist für viele Autorinnen und Autoren keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Ironisch, aber nicht albern, witzig, aber nicht derb, pointiert, aber nicht plump, treffend, aber nicht mit dem Holzhammer – das ist es, was den Satiriker Jasieński auszeichnet. In einer Zeit des Überschwangs, des Pathos und des ideologischen Dogmas konnte jedoch Lachen tödlich sein. Zudem war die Eugenik damals auch außerhalb der faschistischen Welt eine anerkannte Wissenschaft, die qualitative Einteilung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer äußeren Merkmale und ihres Verhaltens in den USA, in Westeuropa oder in der Sowjetunion selbst gang und gäbe, die Zwangssterilisierung von „Minderwertigen“ – von geistig Behinderten, Angehörigen von Minderheiten, „hysterischen“ Frauen, Roma und Sinti oder von Menschen, deren Lebensstil schlichtweg nicht der Norm entsprach – sogar in Ländern wie Schweden oder Australien keine Seltenheit.

„Die Nase“, dieses kleine Märchen, diese Metapher, die nur scheinbar und auf den ersten Blick eine amüsante, wenn auch böse Petitesse darstellt, zielt hauptsächlich auf eine Haltung ab, die leider damals wie heute ihr Unwesen treibt – die Rationalisierung des Irrationalen, die scheinbare Objektivierung des Vorurteils. Man braucht nur sehenden Auges die Welt der Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts zu betrachten, in sozialen Netzwerken präsent zu sein oder den Ausführungen mancher Pseudowissenschaftler auf YouTube zu lauschen, um die leider immerwährende Aktualität von Jasieńskis Werk zu erkennen. Während Nazis überall jüdische Nasen zu erkennen glaubten, haben Identitäre und Rechtsradikale, „Covidioten“, Querdenker aller Art und bigotte Reaktionäre von heute das Gefühl, überall von „Kulturmarxisten“, „Islamverharmlosern“, „Linksgrünen“ oder einer nebulosen, aber gefährlichen und ausbeuterischen „Elite“ umzingelt zu sein. Die zahlreichen offenen oder versteckten „Feinde“ führen uns alle an der Nase herum, auch wenn es nicht mehr unbedingt eine jüdische sein muss … Bruno Jasieński aber hat zweifellos ein großes Plädoyer für die Menschlichkeit verfasst. Es ist der nie abzuwaschende Schmutz unserer Welt, nicht die Nase, sondern der Rotz des Lebens, den dieser Autor in seinem Werk so schmerzhaft und hellsichtig darzustellen versteht.

Der vorliegende Text ist eine gekürzte und leicht geänderte Fassung des Nachworts von Vladimir Vertlib zu Bruno Jasieńskis Novelle „Die Nase“, die im März 2021 bei bahoe books, Wien, als Buch erscheint. 2020 brachte derselbe Verlag Jasieńskis Roman „Pest über Paris“ (aus dem Polnischen von Klaus Staemmler) heraus, im Herbst 2021 folgt die Publikation von Jasieńskis Roman „Der Mensch wechselt seine Haut“ (aus dem Russischen von Elisabeth Namdar).

Bruno Jasieński

Die Nase

Aus dem Russischen von Elisabeth Namdar. Mit einem Nachwort von Vladimir Vertlib. 140 S., geb., € 16,- (bahoe books, Wien)

Comments
One Response to “Der Rotz des Lebens”
  1. Dr. Walter Thaler sagt:

    Eine höchst interessante Rezension eines bemerkenswerten Buches!

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