Die große Schlacht
Die Rettung der Welt vor der Apokalypse? Vor 80 Jahren besiegte die Rote Armee die deutsche Wehrmacht in der Schlacht um Moskau. Das „Unternehmen Barbarossa“ war gescheitert – und damit der Versuch der Nazis, die Welt zu dominieren.
Von Vladimir Vertlib
In: „Salzburger Nachrichten“, Samstag, 27. November 2021
Es gibt Historiker, die behaupten, die „Schlacht um Moskau“, die im Dezember 1941 zur Niederlage der deutschen Wehrmacht westlich von Moskau führte, sei das eigentlich kriegsentscheidende Ereignis des Zweiten Weltkrieges gewesen. Das Scheitern des als Blitzkrieg konzipierten „Unternehmen Barbarossa“, das einen deutschen Sieg gegen die Sowjetunion in etwa vier Monaten vorgesehen hatte, habe den Anfang vom Ende des NS-Regimes und somit die Rettung der Menschheit vor einer apokalyptischen Zukunft bedeutet. Das ist zweifellos übertrieben. Die von Deutschland verlorene Luftschlacht um England bedeutete gleichermaßen einen Wendepunkt, und spätestens mit dem Eintritt der USA in den Krieg, der zeitgleich mit dem Sieg der Roten Armee bei Moskau erfolgte, war der Krieg für Deutschland auf keinen Fall mehr zu gewinnen. Eine deutsche Eroberung Moskaus hätte ihn aber erheblich verlängert und wohl Millionen weiterer Menschen das Leben gekostet.
Zur Schlacht um Moskau kursieren mehrere Mythen. Die in Deutschland und Österreich jahrzehntelang gängige, an Veteranenstammtischen, aber auch von Geschichtslehrern vertretene Version war, dass der „russische Winter“, die schlechten Straßen und die „Weite des Landes“ den ansonsten unbesiegbaren und seinem Gegenüber „naturgemäß“ überlegenen deutschen Soldaten besiegt habe. In der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten sprach und spricht man hingegen vom heldenhaften Abwehrkampf der Roten Armee und der Zivilbevölkerung, die unter furchtbaren Opfern den „brutalen faschistischen Aggressor“ aufgehalten und schließlich vernichtet haben.
Die Wahrheit liegt, wie so oft, irgendwo dazwischen und ist gleichzeitig sehr viel komplexer. Zweifellos spielten Topographie und Klima eine große Rolle. Das hatte 129 Jahre früher schon Napoleon feststellen müssen. Der Winter 1941/42 war der kälteste seit Jahrzehnten. Die Straßen waren nach starkem Regen Mitte Oktober kaum mehr passierbar, und starker Frost setzte schon Anfang November ein. Darauf war die Wehrmacht weder vorbereitet, noch war sie entsprechend winterfest ausgerüstet. Der Krieg gegen die Sowjetunion hatte am 22. Juni begonnen und hätte im Herbst vorbei sein sollen. Hinzu kam die Tatsache, dass die immensen deutschen Verluste nicht schnell genug durch frische Truppen ersetzt werden konnten. Allein im November 1941 verlor die Wehrmacht vor Moskau 145.000 und im Dezember 103.000 Mann. Trotzdem wäre sich der Sieg in der warmen Jahreszeit wohl ausgegangen, wenn das Unternehmen Barbarossa funktioniert hätte.
Was gerne verdrängt wird: Als die deutsche Wehrmacht in der Sowjetunion einmarschierte, wurde sie von großen Teilen der Bevölkerung als Befreierin gefeiert. Das Gebiet, in das die Wehrmacht einmarschierte, war erst ein bis zwei Jahre zuvor von der Sowjetunion als Folge des Hitler-Stalin-Paktes annektiert worden – die Westukraine und das westliche Weißrussland, das Baltikum, die Bukowina und Moldawien. Hunderttausende Menschen waren dort in nur wenigen Monaten dem Terror der Sowjetherrschaft zum Opfer gefallen. Die „alte“ Sowjetunion in den Grenzen vor 1939 hatte allerdings eine noch schlimmere Zeit hinter sich: die großen „Stalinschen Säuberungen“, die Kollektivierung mit ihren Hungersnöten, Massendeportationen und Millionen von Toten. In Witebsks, Smolensk oder Moskau waren Hass und Wut auf das bolschewistische Regime ebenfalls groß.
In großen Teilen der Bevölkerung hatten die deutschen Eindringlinge anfangs „natürliche“ Verbündete gefunden. Ein verbindendes Element war zweifellos auch der Antisemitismus der Nazis, der in Osteuropa auf fruchtbaren Boden fiel. Doch Hitler und die Nazis wollten diese offensichtlichen Vorteile nicht für sich nutzen. Sie waren nicht als Befreier vom stalinistischen Joch gekommen, sondern führten einen Vernichtungsfeldzug gegen alle sogenannten „Untermenschen“ (und nicht nur gegen Juden) im Osten. Das bekam die Bevölkerung innerhalb kürzester Zeit zu spüren und reagierte entsprechend. Schon im Sommer 1941 waren sowohl der Widerstand der Roten Armee als auch die Partisanentätigkeit in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten groß.
Letztlich waren es neben strategischen und taktischen Fehlern der deutschen Führung keine großen sowjetischen Siege, sondern zahlreiche Abwehrschlachten der Roten Armee, die den deutschen Vormarsch an verschiedenen Stellen der Front jeweils für Tage oder Wochen aufhielten oder verlangsamten und dabei die Wehrmacht zermürbten und dezimierten, die schließlich zur deutschen Niederlage führten. Erwähnenswert seien dabei exemplarisch die Verteidigung von Mogiljow in Weißrussland im Juli, die den deutschen Vormarsch stark verzögerte, und die Abwehrschlacht von Moschajsk im Oktober – nur mehr 100 Kilometer von Moskau entfernt. Dabei wurden von sowjetischer Seite zeitweise die letzten Reserven in den Kampf geschickt. Im Herbst 1941 waren dies vor allem zivile Rekruten, eine Art Volkssturm, der vor allem aus Freiwilligen bestand, die für den regulären Militärdienst zu jung, zu alt oder nicht tauglich gewesen waren. Von diesen nur notdürftig ausgebildeten und schlecht ausgerüsteten Kämpfern überlebte praktisch niemand die Schlachten westlich von Moskau.
Als Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfiel, befand sich die Rote Armee gerade in einer Umbauphase. 75000 Offiziere waren den „Säuberungen“ Ende der 1930er Jahre zum Opfer gefallen. Die jungen Kommandeure, die danach rasch in leitende Positionen vorgerückt waren, hatten weder Erfahrung noch beherrschten sie die moderne Technik – vor allem Panzer –, um sie in einem modernen Krieg effektiv einsetzen zu können. Diese Defizite wurden durch persönliche Tapferkeit und den rücksichtslosen, exzessiven Einsatz von „Menschenmaterial“ kompensiert.
Als Ende November die Temperaturen auf unter minus 35 Grad sanken, war die Wehrmacht schon zu ausgelaugt und zu schwach, um den letzten Verteidigungsring vor Moskau zu brechen. Am 2. Dezember erreichte eine deutsche Vorhut den Ort Chimki – acht Kilometer von Moskau entfernt. Am 5. Dezember startete eine sowjetische Gegenoffensive mit frischen, gut ausgerüsteten Truppen, die in den letzten Monaten rekrutiert und ausgebildet werden konnten. Erst im Februar 1942 konnte die Wehrmacht nach dem Verlust von weiteren 150.000 Mann die Front hunderte Kilometer weiter westlich stabilisieren.
Fazit: die Verluste der Roten Armee betrugen bis Frühjahr 1942 mehr als 900.000 Mann, jene der Wehrmacht etwa 500.000. Die sterblichen Reste von Gefallenen findet man in den Wäldern westlich von Moskau auch heute noch.
(c) Vladimir Vertlib