Über Ukrainer und Russen: Sie waren doch wie Brüder

„Die Presse, Spectrum“, 04.03.2022 um 20:11

von Vladimir Vertlib

Ukrainer und Russen haben dieselben sprachlichen und ethnischen Wurzeln, ihre Familien haben ähnliche Erfahrungen gemacht – ob als Opfer oder Täter, als Kämpfer der Roten Armee, als Fabrikarbeiterinnen im Großen Vaterländischen Krieg oder als Strafgefangene im Lager, als Verfolgte, Funktionäre oder Mitläufer. Und jetzt?


Am 24. Februar 2022, dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine, wird ein mit dem Handy gemachtes Amateurvideo ins Netz gestellt, das den Abschuss eines Militärflugzeuges zeigt. Leicht verwackelt und etwas unscharf sieht man die Biegung eines breiten Flusses, wahrscheinlich des Dnjepr, im Morgengrauen, hört den Knall einer Explosion, sieht dichten Rauch, der sich wie eine schmutzige Wolke vom Himmel Richtung Wasser und Erde senkt. Aus diesem Rauch heraus gleitet ein Fallschirm hinab zum Fluss. Schemenhaft erkennt man eine Person im Tarnanzug, und dann hört man eine männliche Stimme im Hintergrund: „Abgeschossen! Da kommt er. Ist das einer von uns?“ Eine weibliche Stimme antwortet: „Nein, das war ein russischer Militärjet.“ Darauf wieder die männliche Stimme: „So ein (es folgt ein derbes Schimpfwort)! Hoffentlich ersäuft er im Fluss.“ Und wenige Augenblicke später: „Wenn wir ihn erwischen, erschlagen wir ihn!“ Bezeichnend an diesem kurzen Dialog ist nicht nur die hörbare Wut und die daraus resultierenden Gewaltphantasien, sondern auch die Tatsache, dass er auf Russisch stattfindet.

Es gibt wohl kaum Länder in Europa, die einander derart ähneln wie Russland, die Ukraine und Belarus. Mit Ausnahme Galiziens, der Karpatenukraine und der Bukowina waren sie mehr als zweihundert Jahre lang Teil desselben Staates und derselben Kulturregion. Die drei „Brudervölker“ haben dieselben sprachlichen und ethnischen Wurzeln sowie weitestgehend dieselbe Religion. Die Menschen haben in der Zarenzeit, zu Sowjetzeiten und auch noch einige Jahre danach dieselben Prägungen erhalten, dieselben Bücher gelesen, Fernsehsendungen und Filme geschaut, dieselbe Musik gehört und dieselben Pop-Gruppen, Medienstars und Influencer bewundert. Ihre Familien haben ähnliche Erfahrungen gemacht – ob als Opfer oder Täter, als Kämpfer der Roten Armee, Fabrikarbeiterinnen im Großen Vaterländischen Krieg oder als Strafgefangene im Lager, als politisch Verfolgte oder als Henker, Funktionäre und Mitläufer. Nicht alle sprechen Ukrainisch oder Belarussisch, aber fast alle beherrschen Russisch. Man verwendet dieselben Anspielungen, Redewendungen und Schimpfwörter. Es gibt mehr Menschen ukrainischer Herkunft in Russland als Russen in der Ukraine, wobei eine Grenze zwischen diesen beiden Völkern ohnehin sehr schwer zu ziehen ist. Woran wäre diese denn festzumachen? Religion, Muttersprache oder Herkunft eignen sich kaum dafür. In der Sowjetzeit wurde der ukrainische Nationalismus genauso unterdrückt wie andere nationalistische Bewegungen auch. Menschen ganzer Regionen wurden dem Hungertod preisgegeben oder deportiert, doch stets bildeten die drei slawischen Völker zusammen die dominierende, staatstragende Gruppe. Die langjährigen sowjetischen Machthaber Chruschtschow und Breschnew waren Ukrainer. Klassiker der russischen Literatur wie Gogol oder Bulgakow waren Ukrainer, Solschenizyn war der Sohn eines Russen und einer Ukrainerin. Kiew ist heute immer noch eine Stadt, in der mehrheitlich Russisch gesprochen wird, und ist dennoch das Zentrum eines postmodernen ukrainischen Patriotismus, der Weltoffenheit mit altbackenem Pathos und echte Folklore mit Kitsch verbindet.

Noch ein Handyvideo: Eine nur schwach beleuchtete Landstraße in der Nacht. Ein Mann in mittleren Jahren, korpulent, mit Pullover und Trainingshose nur leicht bekleidet, schreit zwei Soldaten in voller Kampfmontur, die den Zugang zur Straße bewachen, an: „Was tut ihr hier, Hurensöhne? Wieso seid ihr hierher gekommen? Geht zurück nach Russland! Was sagen eure Mütter dazu? Das ist mein Land, ihr Hurensöhne.“ Die Soldaten ignorieren ihn, rühren sich nicht, sagen kein Wort. „Ich bin doch selbst Russe, ihr Hurensöhne“, brüllt der Mann. „Aber ich lebe jetzt in diesem Staat, es ist mein Staat. Hurensöhne!“

Ein Fake-Video? Propaganda? Vielleicht nicht.

In ihren Grundstrukturen und wesentlichen Problemen unterscheiden sich die Gesellschaften der Ukraine und Russlands auch dreißig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion kaum. Zum Erbe des einst „real“ existierenden Sozialismus gehören Korruption, Vetternwirtschaft und die Macht von Oligarchen, unterentwickelte demokratische und rechtliche Strukturen, hohe Gewaltbereitschaft, Alltagsfaschismus und patriarchales Denken gepaart mit Rassismus, Antisemitismus und Homophobie. Als Rechtsradikale und faschistische Paramilitärs vor einigen Jahren eine Gay-Parade in Kiew attackierten und dabei Polizisten verletzten, ernteten sie ausgerechnet von ihren schlimmsten Feinden, den russischen Separatistenführern in der Ostukraine, öffentlich Lob dafür. Der gemeinsame Hass auf und die Angst vor Schwulen sind offenbar stärker als Chauvinismus und Krieg.

Als der Erste Weltkrieg begann, herrschte in Europa kurzzeitig Euphorie, als der Zweite Weltkrieg begann, jubelte kaum jemand. Ähnlich verhält es sich in Russland und der Ukraine. 2014 gab es auf beiden Seiten neben Wut und Entsetzen auch Jubel und Hoffnung, nationalistische Emotionen, Verachtung für die Gegenseite und vor allem Tatendrang. 2022 ist davon wenig geblieben. Interviews mit Passanten in Mariupol, einer weitgehend russischsprachigen, einst von vielen Griechen bewohnten Stadt direkt an der Frontlinie zur Volksrepublik Donezk, zwei Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine offenbarten weder Angst noch Hass, sondern in erster Linie Resignation oder einfach nur tiefe Traurigkeit. Nach acht Jahren Krieg schienen die Menschen des Kämpfens müde zu sein, wollten weder die Separatisten hassen noch auf Europa hoffen. Die Vorstellungen, alsbald der EU beizutreten und einen Lebensstandard wie in Polen zu erreichen, gehörten der Vergangenheit an. Manche kritisierten Selenskyj, andere schimpften über Putin. Niemand machte sich irgendwelche Illusionen, kaum jemand wollte in den Kampf ziehen. Ob man sich vor einem möglichen Krieg fürchte? „Wieso?“, war die Antwort. „Wir haben doch schon längst Krieg.“ Als die russischen Truppen angriffen, war aber gerade der Widerstand in Mariupol besonders stark.

Isaak Babel und Bulgakow

Als die Ukraine im Dezember 1991 unabhängig wurde, war ich nicht glücklich. Zugegebenermaßen hatte ich viele Vorurteile gegenüber Ukrainern. Eine Tante von mir, die in der Ukraine geboren und aufgewachsen war, berichtete von ihren antisemitischen Erfahrungen, den Anfeindungen, Übergriffen und der Verachtung, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg als Schülerin in der ukrainischen Provinz erleben musste. Während der NS-Besatzungszeit waren Verwandte meiner Tante von ihren ukrainischen Nachbarn ermordet worden. Das meiste, was ich über die Ukrainer las oder hörte, machte auf mich den Eindruck, es handle sich um primitive Hinterwäldler und Antisemiten, die mit den Nazis kollaboriert hatten. Sollte man Kiew und Odessa, Lemberg oder die Krim, alles Kultur- und Sehnsuchtsorte, die ich als Teil meiner eigenen Identität ansah, auch wenn ich sie hauptsächlich aus der Literatur kannte, tatsächlich den Ukrainern überlassen? Kiew – das war russische Geschichte und Literatur, die Stadt der Autorenklassiker Bulgakow und Paustowskij, Odessa war das Zentrum des russischen Judentums, Heimat des Schriftstellers Isaak Babel und des Zionisten Zeev Jabotinsky. Die Stadt Jalta auf der Krim verkörperte ein mondänes russisches Nizza mit einem Hauch Orient, dem Flair kultivierter Gespräche und Tschechow‘scher Erzählungen. Was hatte das mit der Ukraine zu tun? Und Lemberg? In dieser ursprünglich polnischen Stadt begegneten sich symbolisch meine jüdische, russische und österreichische Identität.

Noch ein Video: Am 26. Februar werden in der ostsibirischen Stadt Chabarowsk, die an der Grenze zu China liegt, zwei Männer festgenommen, die Transparente mit der Aufschrift „Nein zum Krieg!“ hochhalten. Die Polizisten, die sie abführen, sind freundlich, aber bestimmt. Es wird weder geschimpft, noch kommt es zu Handgreiflichkeiten. „Unsere Polizei schützt das Regime“, gibt der jüngere der beiden Männer ein Statement für die Handykamera und das Internet ab. „Ein Regime, das gerade ein Nachbarland angreift und Leute umbringt.“ Die Passanten reagieren weitgehend teilnahmslos. Es gibt keinen Menschenauflauf, nur ein paar wenige Sympathisanten, die seltsam still und passiv bleiben.

Chabarowsk liegt etwa 6500 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, aber das ist gar nicht der Punkt. Vielmehr haben die Menschen diesen Konflikt längst satt, auch hier, wo ihnen Fernsehen und Internet Krieg und Hass seit Jahren täglich ins Haus bringen. Putins Krieg ist unbeliebt, außer in der offiziellen Propaganda, in der er nicht einmal Krieg genannt werden darf, doch außerhalb von Moskau und St. Petersburg gehen deshalb nur vergleichsweise wenige auf die Straße, um zu protestieren. Erst wenn Zehntausende Gefallene in Zinksärgen nach Hause kommen, könnte Putins Regime ernsthaft in Gefahr geraten. Wenn aus dem Blitzkrieg ein langer Abnützungs- und Partisanenkrieg wird, könnte dies der Anfang vom Ende des Putin-Regimes werden. Die traumatische Erfahrung eines Bruder- und Schwesternkrieges wird ihm auf Dauer wohl auch die eigene Bevölkerung nicht verzeihen. Schon wenige Tage nach Beginn des Krieges wurde von Vorfällen berichtet, dass sich russische Soldaten weigerten, in diesen Krieg zu ziehen und die eigene Ausrüstung zerstörten. Sehr bald erkannten sie, dass sie in der Ukraine nicht als Befreier gesehen werden.

Vorerst hat man aber noch andere Sorgen: immer noch sterben täglich Hunderte Menschen an Covid-19. Etwa 350.000 Tote sind es offiziell bis jetzt, seriösere Quellen sprechen von bis zu einer Million Toten. Die wirtschaftliche und soziale Lage ist katastrophal. Kiew ist weit, das eigene Grab aber sehr nahe. So kommt der Krieg irgendwie zum falschen und zum richtigen Zeitpunkt. Man wird abgelenkt, freut sich nicht, tut aber seine „Pflicht“. Mehr braucht das Regime auch gar nicht.

Als ich am Morgen des 24. Februar erfahre, dass Putins Invasion der Ukraine tatsächlich begonnen hat, wird mir schlecht. Ich telefoniere mit Freunden und Verwandten, gebe Interviews, schreibe meine Gedanken auf. Ich habe Wurzeln in Russland, Belarus und der Ukraine, kann im fernen Salzburg die Ereignisse aber nur verzweifelt beobachten und kommentieren. Ich überlege, wie sarkastisch Geschichte doch sein kann, und wieviel sich allein in meiner Lebenszeit radikal geändert hat. Putin möchte die Ukraine „entnazifizieren“, dabei ist aber gerade Wolodymyr Selenskyj, Präsident der einst angeblich so antisemitischen Ukraine, selbst Jude; Muttersprache Russisch. Bei den Präsidentenwahlen von 2019 wurde er mit 73 Prozent der Stimmen gewählt. Der frühere Ministerpräsident Wolodymyr Hrojsman ist ebenfalls jüdischer Herkunft. Die russische Behauptung, die Ukraine werde von einer „faschistischen jüdischen Junta“ regiert, ist genauso aberwitzig und bizarr wie Putins Erklärung, die Ukraine sei eine Kreation Lenins und eigentlich stets ein Teil Russlands gewesen. Die Ukraine ist heute so wenig Russland wie Österreich Deutschland ist. So groß die Ähnlichkeiten auch sein mögen – Identität ist eine Frage des Bewusstseins und der Haltung und nicht der äußeren Merkmale. Letztlich ist die Ukraine aber nicht wegen ihrer demokratischeren und westlichen Orientierung kein Teil Russlands, sondern schlichtweg, weil es sie seit dreißig Jahren als unabhängigen Staat gibt. Allein schon diese gemeinsame Erfahrung erschafft Identität.

Wenn Russen und Ukrainer gegeneinander kämpfen, handelt es sich natürlich in erster Linie um Putins Eroberungsfeldzug gegen sein Nachbarland.

Die Last der Geschichte

Aber es ist auch ein Bruder- und Schwesternkrieg, der vielleicht gerade deshalb so erbittert geführt wird, weil es sich um eine Familienangelegenheit handelt. Viel zu oft sieht man im „Feind“ den eigenen Schatten, die verdrängten Anteile der eigenen Seele, erkennt im Anderen die eigene Sehnsucht, die Last der Geschichte abzustreifen. Die einen treten dabei die Flucht nach vorne, aus dem eigenen Elend nach Westeuropa, an, nur um zu erkennen, wie lang und mühsam dieser Weg ist. Die anderen greifen nach der einstigen Größe und Wichtigkeit, nur um irgendwann doch mit leeren Händen dazustehen. Doch bis es so weit ist, werden Menschenleben vernichtet, Kinder für ihr gesamtes Leben traumatisiert, physische und emotionale Verletzungen zugefügt, deren Folgen über Generationen bis ins nächste Jahrhundert reichen werden. Und manche Bilder werden sich den meisten von uns einprägen – Bilder aus Kiew 2022, die an jene von Sarajewo 1993, Berlin 1945, Kiew 1941 oder London 1940 erinnern.

(c) Vladimir Vertlib

Vladimir Vertlib
Geboren 1966 in Leningrad, UdSSR. 1971 emigrierte seine Familie nach Israel, dann nach Italien, die Niederlande und in die USA, bevor sie sich 1981 in Österreich niederließ. Vladimir Vertlib studierte Volkswirtschaftslehre und lebt seit 1993 als Schriftsteller und Übersetzer in Wien und Salzburg. Sein neuer Roman, „Zebra im Krieg“, ist soeben im Residenz Verlag erschienen.

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