Diese Zunge gehört nicht mir
Online am 05.05.2023 um 18:32.
Rezension von Vladimir Vertlib in: „Die Presse“, „Spectrum“, Wien, Seite V.
Printausgabe vom 6. Mai 2023
Ein kleines literarisches Meisterwerk: In der Erzählung „Ich ohne Worte“ setzt sich Renate Welsh mit ihrem zeitweiligen Verlust von Denk- und Sprechvermögen nach einem Schlaganfall auseinander.
Die österreichische Schriftstellerin Renate Welsh erlitt im Sommer 2021 während eines Aufenthaltes in Italien einen Schlaganfall. Was folgte, war eine Reihe traumatischer Erfahrungen: Sprachverlust, eine beängstigende Entfremdung vom eigenen Körper, Ohnmacht, die Verzweiflung darüber, sich nicht mitteilen zu können, ein äußerst anstrengender, weil zehnstündiger Transport im Krankenwagen nach Wien, dem ein langer, mühsamer Genesungsprozess mit Aufenthalten im AKH und im Rehabilitationszentrum Rosenhügel in Wien sowie weitere Therapien folgten. Die Rekonvaleszenz ging mit einer Selbstfindung und Neuerfindung des eigenen Ich einher, die viele Monate in Anspruch nehmen sollte.
Bis zu ihrem „Insult“ – diese medizinische Bezeichnung für den Schlaganfall scheint Renate Welsh sehr passend zu sein, handelt es sich hierbei ja in der Tat um eine schwere Beleidigung für Körper und Geist – hatte die damals 83-jährige, erfolgreiche Autorin ein sehr aktives Leben geführt. Seit mehr als 50 Jahren leitet sie Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, darunter in der Obdachloseneinrichtung VinziRast in Wien, und macht ausgedehnte Lesereisen im In- und Ausland; ihre Kinder- und Jugendbücher sind längst moderne Klassiker. Erst im Frühjahr 2021 war ihr hochgelobter Roman „Die alte Johanna“ erschienen.
Der Verlust der Kontrolle über ihren Körper, ihr Leben und über die meisten gestalterischen Fähigkeiten war für Renate Welsh ein schwerer Schock. Jetzt, keine zwei Jahre später, legt sie mit der Erzählung „Ich ohne Worte“ einen sprachlich präzisen, tiefsinnigen, passagenweise auch äußerst spannenden Bericht über den „Insult“ und seine Folgen vor. Die Bezeichnung „Erzählung“ ist dabei für diesen Text wohl etwas zu bescheiden gewählt.
Persönliche Selbstvergewisserung
Auch wenn die eigentliche Erzählung – die Chronologie der Ereignisse, die tragisch, bedrückend, manchesmal komisch, aberwitzig oder bizarr anmuten und oftmals dies alles zugleich sind – die Grundstruktur dieses etwas mehr als hundert Seiten langen Buches bildet, so sind es vor allem die Reflexionen über das Leben, das Alter und den Tod, die essayistischen Passagen, Aphorismen und autobiographischen Rückblenden, die das Buch zu einem kleinen literarischen Meisterwerk machen. Hier wird eine persönliche Selbstvergewisserung zu einem exemplarischen Fall erweitert, für die Beschreibung von Sprachlosigkeit die richtige Sprache gefunden, mit der nötigen Dankbarkeit, Demut, aber auch Genauigkeit aufgezeigt, was in Zeiten der Krise noch möglich ist. „Genauigkeit kann den Boden für Empathie bereiten“, heißt es am Ende des Buches. „Ich glaube auch, dass Sprache mithelfen kann, das eigene Leben bewohnbarer zu machen.“
Es grenzt an ein Wunder, ist aber auch der Disziplin und Hartnäckigkeit der Autorin zu verdanken, dass sie sich überhaupt soweit erholen konnte, um dieses Buch zu schreiben. In den Tagen und Wochen nach dem Schlaganfall konnte sie weder klar denken noch sprechen oder die nötigen Worte für Dinge des Alltags, Gefühle oder Erinnerungen finden. Ihre Assoziationen waren oft willkürlich, die Verknüpfung von Eindrücken lose bis surreal. Ohne Worte, stellt Renate Welsh bald fest, kann sie nicht denken. „Ich ohne Worte war mir fremder als fremd. Die Windungen meines Gehirns erschienen mir als vielfach verknotete Sackgassen. Ich fürchtete mich davor, mich darin zu verirren oder zu ersticken.“ In ihrem Mund liegt eine unnütz scheinende „Ochsenzunge“.
Teile des eigenen Körpers verselbstständigen sich, werden zu einem fremden, abstoßenden Etwas. Wenn Shiraz, Renate Welshs Mann, anrief, wusste sie nichts zu sagen, drückte nur hilflos das Handy an ihr Ohr. Shiraz war selbst schwer krank. Er litt an zwei Aneurysmen, die bei einer Routineuntersuchung an seiner Aorta gefunden wurden. Die notwendige, aber lebensgefährliche Operation wurde aufgrund der steigenden Corona-Zahlen und der Überlastung des Gesundheitssystems im Herbst 2021 immer wieder verschoben.
Gelästert wurde auch
Die Sorge um ihren Mann relativierte für Renate Welsh „gleichzeitig alles andere und machte es auf eine völlig widersinnige Art noch schwerer. Wenn er sagte, es käme doch nicht darauf an, wie gescheit oder wie tüchtig ich sei, hätte ich schreien können, statt es als Liebeserklärung zu werten, wie es gedacht war. Seine Geduld steigerte meine Ungeduld“.
Trotz des schwierigen Themas und des traurigen Inhalts ist „Ich ohne Worte“ nur an einigen Stellen ein bedrückendes Buch. Dass es dies in großen Teilen nicht ist, verdankt es nicht nur dem subtilen Humor der Autorin, ihrer hervorragenden Beobachtungsgabe und der Fähigkeit, absurde Momente des Alltags als solche zu erkennen und pointiert darzustellen, sondern auch den zahlreichen Rückblenden, die mit einem wehmütigen, der Krankheit geschuldeten Blick auf längst Vergangenes ein Kaleidoskop des eigenen Lebens zeichnen und dabei die Gegenwart neu bewerten.
Es sind Erlebnisse aus Renate Welshs Kindheit, die Beziehung zu Eltern, Großeltern, der Stiefmutter und anderen Verwandten, Schlüsselmomente der frühen Kindheit und alles andere als willkürliche Episoden aus ihrem späteren Leben, die das Gedächtnis freigibt. Die existenzielle Erfahrung einer lebensbedrohlichen Erkrankung erlaubt es nicht nur, sondern fordert es geradezu ein, dass diese Schlüsselmomente aus der Vergangenheit plötzlich relevant und gegenwärtig erscheinen.
„Die Verstorbenen“, erinnert sich Renate Welsh, „gehörten ebenso zu meiner Herkunftsfamilie wie die Lebenden, Friedhofsbesuche waren Teil eines jeden Festes. Nicht immer wurde der Tod ehrfürchtig behandelt, es wurde auch gelästert.“
Mit viel Empathie und Dankbarkeit schreibt Renate Welsh ebenso über die zahlreichen Menschen von heute, die ihr in der schweren Zeit der Rekonvaleszenz geholfen haben: ihren Mann, ihre Kinder, die Enkelin, über Krankenschwestern, Therapeutinnen, über alle Menschen, die ihr „Mut gemacht“, sie „angeschaut, angesprochen, zugehört, zugelächelt“ haben. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.
Mut machen wird es all jenen, die bewundernd erkennen werden, wie die Autorin durch ihre Krankheit zur Konfrontation und Aussöhnung mit der Summe ihrer Defizite gezwungen wurde. Dass dies gelingen konnte, kann anderen Menschen Hoffnung machen.
Renate Welsh
Ich ohne Worte
Erzählung.
105 S., geb., € 20
(Czernin Verlag, Wien)
(c) Vladimir Vertlib
Die Rezension des Buches „Ich ohne Worte“ ist eine großartige Liebeserklärung an die Erzählerin Renate Welsh, möge sie auch – wie gute Literatur – Wirkung für eine völlige Genesung haben.