Zukunft braucht Erinnerung

Vladimir Vertlibs Festrede zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am 6. Mai 2023 in Graz

Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist mir eine große Ehre, die diesjährige Festrede zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus hier in Graz zu halten. Ich danke für die Einladung, für die Ehre, hier zu sein und zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Ich muss jedoch zugeben, dass ich diesmal – so wie schon früher, wenn man mich bat, zu ähnlichen Anlässen Reden zu halten oder Statements abzugeben – kurz gezögert hatte, ob ich die Einladung annehmen soll.

Zukunft braucht Erinnerung …
Als Jude hatte ich früher oft Scheu, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen, weil ich einerseits den Eindruck vermeiden wollte, meine Herkunft sei der primäre Grund, warum ich überhaupt dazu eingeladen wurde, und andererseits, weil ich das Gefühl hatte, es seien die Nachkommen von Täter:innen, die sich in erster Linie um das öffentliche Gedenken bemühen sollten, vor allem aber darum, dass sich Diktatur und Massenmord nicht wiederholen. Ich selbst und viele andere Nachkommen der Opfer, die ich kenne, brauchen eigentlich keine Gedenkveranstaltungen, um uns zu erinnern; das Trauma, auch das sekundäre, von Eltern und Großeltern vererbte Trauma, ist ohnehin zu stark, als dass wir vergessen. Und wenn wir gedenken, hat dies eine andere Form und eine andere Bedeutung. Der 8. Mai war für mich immer schon ein Tag der Befreiung und der Freude. Jedes Datum, an dem ein NS-Gefängnis, ein KZ, ein Dorf, eine Stadt, eine Straße, ein Feld, ein Haus, befreit wurde, ist in meiner Wahrnehmung ein Freudentag. Für die Mehrheit der Bevölkerung hier bei uns, in diesem Land, war das in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit allerdings nicht so. Gewiss: Eine Minderheit sah es immer schon wie ich. Die Mehrheit der Menschen fühlte sich aber weder von den Alliierten befreit noch empfand sie Reue für die Verbrechen der Nationalsozialisten oder wollte jemals dieser gedenken. Die Opfer der Nationalsozialisten wollte man am besten rasch vergessen bzw. stilisierte sich selbst zu einem Opfer der Umstände. War es nicht hier, in Graz, dass ein bekannter NS-Massenmörder von einem Gericht freigesprochen und von der Bevölkerung bejubelt wurde?

Dies ist die große Hypothek, mit der die nächste und übernächste Generation, die Nachkommen der besagten Mehrheit, zu leben haben. Ich weiß, dass das für manche eine sehr schwere Last ist, und dass es Mut erfordert, diese auf sich zu nehmen und offen dazu zu stehen. Ich habe Zeiten erlebt, als dies noch anders war. Vielen war gar nicht bewusst, wie sehr sie unter dem Schweigen und der Verdrängung gelitten haben. Der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Erinnerung daran konnten sie allerdings nicht entgehen. Sie konnten sie nur zeitlich verschieben oder ihren Kindern und Enkelkindern aufbürden …

Ich habe schließlich doch zugesagt, hier, im Rahmen dieser Veranstaltung, eine Rede zu halten, so wie ich das anderenorts schon getan hatte, weil mich die gesellschaftlichen und politischen Zustände HEUTE derart fassungslos machen (auch dort, wo ich lebe, in Salzburg, kündigt sich eine Koalition der ÖVP mit der FPÖ an, was ich schockierend finde), dass ich dazu nicht schweigen kann, und weil ich durchaus eine Verbindung und Parallelen zu dem erkennen kann, was DAMALS war und was HEUTE stattfindet, was wir tagtäglich erleben müssen, beobachten und das – ob Kriege in der Ferne oder vor unserer Haustür, Angriffskriege, Faschismus, Entsolidarisierung, Armut, Zynismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Homophobie und noch viel mehr als das – bei einigen, nein, bei viel zu vielen, schon jenes ostentative Wegschieben provoziert, jenes „Ich kann’s schon nicht mehr hören“ und „Lass uns von etwa anderes reden“ und, noch öfter und noch bedenklicher: „Wir können ja sowieso nichts dagegen tun“, was letztlich dazu führt, dass man es irgendwann noch öfter hören und darüber reden wird müssen, weil man das, was passiert, dann widrigenfalls schon am eigenen Leibe spürt. Darauf hinzuweisen, zu mahnen, sehe ich als meine Aufgabe an. Ich kann das nur auf eine sehr persönliche Art und Weise tun, in der ich oftmals auf das eigene Ich und die eigene Betroffenheit verweisen muss.

Ein Gedenktag darf sich ja nicht in der Erinnerung an Opfer und Täter:innen von vor achtzig Jahren erschöpfen, sondern sollte stets der Frage nachgehen: Was hat das mit dem Hier und Heute und vor allem mit mir zu tun, mit meiner Familie, meiner Lebensgeschichte, meinen Gefühlen und Ängsten, meinen Hoffnungen für die Zukunft? Und vor allem: Was kann ich tun, damit solche Verbrechen nicht wieder passieren, damit die Welt eine bessere wird? Ein Gedenken hat keinen Sinn, wenn es folgen- und tatenlos bleibt.

Zukunft braucht Erinnerung. Die Gegenwart braucht sowohl das Wissen um die Vergangenheit als auch Visionen für die Zukunft. Die Gegenwart ist zudem von Ängsten, Ambivalenzen, Paradoxien und Déjà-vus geprägt. Manches davon kann ich mit Humor betrachten. Das kann hilfreich sein. Doch die meisten Déjà-vus bereiten mir keine Freude. Ein Beispiel: Vor einigen Monaten nahm ich an der Buchpräsentation einer Kollegin teil, in deren neuem Roman, einer Familiengeschichte, es um das Schicksal eines Wehrmachtssoldaten im Zweiten Weltkrieg, um seine Nachkommen und deren Suche nach der Wahrheit geht. Was hat der Großvater und Urgroßvater während des Krieges getan? War er in Kriegsverbrechen verwickelt? Nach dem Leseteil und dem Podiumsgespräch wollte eine ältere Frau aus dem Publikum wissen, ob „das Wühlen in der Vergangenheit immer noch sinnvoll und zeitgemäß“ sei, und ob sie als eine nach dem Zweiten Weltkrieg Geborene irgendeine Schuld für die Verbrechen jener Zeit empfinden solle. Warum müsse sie sich denn ständig mit diesem Thema beschäftigen? Schließlich fragte sie die Autorin, ob diese auch ein Buch über den Krieg in der Ukraine schreiben würde, was Letztere mit der Begründung verneinte, ihr fehle dafür das nötige Wissen.

Dieses Erlebnis war mehr als ein Déjà-vu. Das war eine Heimkehr – zurück in die Siebziger- und Achtzigerjahre, zur Entfremdung und Unbehaustheit im potenziellen Feindesland Österreich. Leichen im Keller. Schmutz unter bunte Teppiche gekehrt. Dunkle Seelen, die nach gedanklichen und emotionalen Säuberungen gierten. Schon als Kind und als Jugendlicher hörte ich sowohl von älteren als auch von jungen Menschen, es solle doch „endlich Schluss“ sein mit der lästigen Vergangenheitsbewältigung, und das zu einem Zeitpunkt, als diese hierzulande noch nicht einmal richtig begonnen hatte. Die Opfer und deren Nachkommen sollten doch endlich Ruhe geben, „vergeben und vergessen“ und anderen Menschen nicht ständig mir ihren lästigen Erinnerungen auf die Nerven gehen.

Bezeichnenderweise hatte ich damals, als die Täter der Nazizeit noch lebten und ihre Kinder noch jung waren, viel öfter ein schlechtes Gewissen sowie Angst, über meine Wut und Betroffenheit zu reden, als heute, zwei Generationen später. Schon als Volksschulkind wusste ich, dass ich in diesem Land, vielleicht sogar von einigen der Menschen, die ich kannte, ermordet worden wäre, wenn ich hier und nur einundzwanzigeinhalb Jahre früher auf die Welt gekommen wäre. Dies verstörte mich. Ich konnte es nicht verstehen. Mir war zwar klar, dass jene Zeiten vorbei waren und nicht wiederkommen würden. Aber konnte ich mir dessen wirklich sicher sein? Wem in dieser Welt konnte man denn überhaupt vertrauen? Am wenigstens der Welt selbst und ihren schicksalhaften Intentionen mir gegenüber. Und dennoch: Als Kind wollte ich dazugehören, ich wollte mich anpassen und gefallen, ich wollte nicht verärgern und irritieren.

Als ich im Alter von sechseinhalb Jahren in einen Wiener Hort für Knaben kam, mussten die anderen Kinder und ich folgendes Gedicht aufsagen: „Wer die Heimat nicht liebt und die Heimat nicht ehrt, ist ein Wicht und des Glücks in der Heimat nicht wert“. Der Ausdruck „Heimat“ war Anfang der 1970er Jahre zwar schon etwas aus der Mode gekommen, doch die „Tante“, die den Hort leitete, war eine Heimatvertriebene aus Oberschlesien und verwendete den Begriff Heimat noch unhinterfragt. Sie bezeichnete sich als Schlesierin, als Österreicherin und als echte Wienerin, schimpfte über Ausländer, lobte Hitler, ohrfeigte hin und wieder die Knaben oder zog sie an den Ohren (was damals die meisten Leute für normal und angemessen hielten) und war sowohl bei uns Kindern als auch bei unseren Eltern sehr beliebt. Ausgerechnet sie war die erste erwachsene Einheimische, die mir zuhörte, die sich Zeit für mich nahm und mich nicht unterbrach, wenn ich krampfhaft versuchte, die Wörter der fremden Sprache zu Sätzen zu fügen, um Geschichten über meine Eltern, über Russland und die Emigration zu erzählen.

Ansonsten zählten meine Gefühle nicht. Österreich war fast ausnahmslos ein Land der Mörder und ihrer Nachkommen – mit allen damit verbundenen Facetten und Abgründen. Es war (noch) nicht meine Heimat, aber ich wollte stark sein, souverän wirken und dadurch gerade bei jenen, die mich einst hätten umbringen wollen, Anerkennung finden. Ich wollte kein Wicht sein, wollte Menschen verändern, zum Umdenken bewegen, und blieb doch nur klein und ohnmächtig. Das Glück lag irgendwo in weiter Ferne. Wann immer ich versuchte, die gängigen Narrative des allgemeinen Nichtgewussthabenwollens, der fatalistischen Unausweichlichkeit-Des-Mitmachens-Erklärung, der selbstgerechten Anständig-Geblieben-Seins-In-Schweren-Zeiten-Phrase, der angriffigen Die-Juden-In-Israel-Sind-Ja-Die-Nazis-Von-Heute-Provokation, der apologetischen Nicht-Jeder-Ist-Ein-Held-Rhetorik und der stolzen Saubere-Pflichterfüllungsbehauptung in Frage zu stellen oder – was als noch schlimmer und ungehöriger wahrgenommen wurde – dieser die eigene Betroffenheit und die eigene Familienerfahrung des Verachtet-, Verfolgt- und auf grausame Weise Ermordetwerdens entgegenzustellen, wurde ich entweder direkt oder indirekt gemaßregelt, indem man mir ein schlechtes Gewissen machte. Als Gastarbeiterkind solle ich überhaupt dankbar sein, dass ich hier sein und bleiben durfte, hieß es. Österreich war ein gutes Land. Wozu alte Geschichten aufwärmen? Man beiße nicht die Hand, die einen füttert. Ich solle mich nicht auf alttestamentarische Weise danebenbenehmen. Auge-um-Auge funktioniert aber ohnehin nicht, wenn alle so tun, als wären sie blind.

Immerhin haben sich die Zeiten im Laufe eines halben Jahrhunderts dahingehend geändert, dass während der vorhin erwähnten Buchpräsentation drei Leute aus dem Publikum der Dame widersprachen und erklärten, wie sehr die Beschäftigung mit der Kriegsvergangenheit ihrer eigenen Familien für ihre Selbstfindung und ihren Seelenfrieden wichtig gewesen sei. Das hätte es früher in dieser Form nicht gegeben. Zweifellos wären einige weitere Wortmeldungen zur Unterstützung der erwähnten älteren Dame getätigt worden, und diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in jenem Tonfall, der für eine bestimmte Generation bei uns so typisch war, wenn sie einmal in Rage geriet.

Was mich an der Wortmeldung der besagten Dame besonders unangenehm berührte, war die Erwähnung des Krieges in der Ukraine, so als nähmen die Verbrechen von heute durch ihre Ungeheuerlichkeit jenen von gestern und vorgestern ihre Bedeutung und Relevanz für die Gegenwart. Dass Putins Angriffs- und Vernichtungsfeldzug einige Vorspiele und Generalproben in ferneren Ländern wie Syrien oder Georgien gehabt hatte (was bei uns allerdings kaum jemanden dazu animiert hatte, eine heimische Autorin zu fragen, ob sie darüber schreiben wolle), wurde genauso wenig oder kaum zur Kenntnis genommen wie die Tatsache, dass in Russland gerade die mangelnde selbstkritische Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, nicht zuletzt auch mit den eigenen Familiengeschichten, Putins „Fortsetzungskrieg“ gegen Phantom-Nazis in der Ukraine und den vermeintlichen Erzfeind im Westen erst möglich gemacht hatte.

Krieg und Verfolgung bleiben leider ein Thema für Gegenwart. Wenn ich an Putins Krieg in der Ukraine denke, sind meine eigenen Déjà-vus vielfältig: Sie reichen von den Geschichten meiner Eltern über Krieg und Verfolgung, die mir als Kind erzählt wurden und zu einem Teil meiner Identität wurden, bis zu jenen infamen Geschichtsverfälschungen, die ich als gelernter Österreicher kenne und die alles ins Gegenteil dessen verkehrten, was und wie es eigentlich gewesen ist.

Als ich vor ein paar Monaten mit zwei aus Mariupol geflüchteten Familien längere Interviews durchführte, wurde ich unmittelbar an die Erzählungen meiner Mutter über die Leningrader Blockade vor achtzig Jahren erinnert. Für meine Mutter sind manche Erlebnisse jener Zeit so präsent, als wären sie gestern passiert. Die Traumatisierung wirkt bis heute nach, und als ich einen siebenjährigen Jungen aus Mariupol betrachtete und sah, wie er Krieg spielte, wusste ich, dass er seine Traumata vielleicht bis ins 22. Jahrhundert mit sich tragen und an seine Kinder und Enkelkinder weitergeben wird. Das aber sind die Folgen einer verdrängten oder verfälschten Erinnerung, einer mangelhaften Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der bewussten historischen Lüge, die als Schutzwand für die eigene moralische Kuschelecke dient. Wer sich dem Grauen von gestern und vorgestern nicht stellt, wer die Perspektive nicht ändert und nicht bereit ist, ehrlich zu sein, kollektive Verantwortung und Scham zu empfinden und zu trauern, ist gezwungen, das Grauen früherer Zeiten irgendwann zu wiederholen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein klassisches Beispiel dafür. Zukunft braucht Erinnerung, solange es noch nicht zu spät ist!

Was von meinen Eltern und Großeltern an mich weitergegeben wurde? Paradoxien des Grauens. Zum Beispiel die Tatsache, dass eine Form des Vernichtungsfeldzugs, den Nazi-Deutschland (auch) gegen meine Familie geführt hatte, durch eine andere neutralisiert wurde und dieser damit das Leben gerettet hatte. Die eine Form war die Schoah, die geplante Auslöschung des jüdischen Volkes, die zweite Form war die Leningrader Blockade – das bewusste Aushungern der Stadt Leningrad, in der sich meine Eltern und Großeltern aufhielten, bis sie 1942 mit anderen Zivilist:innen aus der belagerten Stadt weggebracht wurden. Hätte die NS-Führung im Herbst 1941 beschlossen, die Stadt im Sturm zu nehmen, statt sie zu umzingeln und zu warten, bis die meisten Zivilist:innen verhungerten, um auf diese Weise die eigenen Verluste zu minimieren und Munition zu sparen, wären meine Eltern nach der Eroberung der Stadt wahrscheinlich aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ermordet worden. Nachdem die Stadt aber niemals eingenommen wurde, und meine Eltern das Glück hatten, nicht zu verhungern, haben sie den Krieg überlebt. Anderenfalls gäbe es mich nicht. Einer paradoxen Perversion folgend, verdanke ich also letztlich einem Völkermord (nämlich jenem gegen die gesamte Einwohnerschaft von Leningrad) mein Leben. Die statistische Wahrscheinlichkeit, in Leningrad nicht zu verhungern (etwas mehr als die Hälfte der Einwohner:innen überlebte die Blockade, fast eine Million starb allerdings), war höher als unter der deutschen Besatzung als Jude oder Jüdin nicht ermordet zu werden (etwa neunzig Prozent aller Jüdinnen und Juden in dem von deutschen Truppen besetzten Gebiet der Sowjetunion wurden ermordet) …

Ein paar Gedanken zum Epochenwechsel. Seit einigen Jahren diskutiert man intensiv darüber, was das Ableben der letzten Zeitzeug:innen der NS-Verfolgung, der Shoah, der Tod der letzten KZ-Überlebenden, für die Erinnerungskultur bedeutet. Bis jetzt und auch heute noch ist die Ehrerbietung, der Respekt, die Bewunderung und die Dankbarkeit, die wir Gegner:innen und Opfern der NS-Diktatur entgegenbringen, ein wesentlicher Bestandteil von Gedenkveranstaltungen. Wir, die Nachkommen, tun das für diese Menschen, aber wir tun es auch und wahrscheinlich noch mehr für uns selbst.

Wenn keine Zeitzeug:innen mehr am Leben sind, müssen wir, die zweite und dritte Generation nach dem Krieg, die volle Verantwortung dafür übernehmen, dass die Erinnerung für die Zukunft erhalten bleibt, dass die Zukunft eingedenk dieser Erinnerung und der damit verbundenen historischen Erfahrungen eine bessere wird und die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Das ist eine schwierige Aufgabe, und, wie man sieht, gelingt es uns nicht immer, ihr gerecht zu werden. Dabei ist die NS-Vergangenheit noch lang nicht „historisch“ wie die Hexenverfolgungen oder der Dreißigjährige Krieg. Sie bleibt weiterhin Zeitgeschichte. Wir aber, die Kinder und Enkelkinder jener, die die Zeit unmittelbar erlebt hatten, müssen die zahlreichen Ambivalenzen aushalten, die unser Leben und unsere Identität prägen: Die sekundäre Traumatisierung und den Kampf mit Dämonen, die nicht primär unsere eigenen sind; die Rolle von Hüterinnen und Hütern der Erinnerung, die an uns vererbt wurde, und die kritische Hinterfragung derselben; die persönliche Betroffenheit bei gleichzeitiger Distanz der nicht unmittelbar, wenn auch massiv mittelbar Betroffenen; die intellektuelle Disziplin, die wir aufbringen müssen, um stets nach der Wahrhaftigkeit hinter den Tatsachen zu suchen, statt sich einen Fetisch, eine Projektionsfläche für Abwägiges oder einen kitschigen oder gar rührseligen Fluchtraum aus der Verantwortung für die Gegenwart zu erschaffen.

Wir sind Generationen des Übergangs, des Zwischenraums, der Transformation. Das ist unsere Bürde und unsere Chance. Ein Fluch und ein Segen zugleich. Wir mussten uns nicht zu Tode fürchten, doch diese Furcht ist stets auch ein Teil von uns.

Wir tragen eine große Verantwortung. Wir müssen dafür sorgen, dass die sogenannte Erinnerungskultur stets gegenwärtig, relevant, breitenwirksam und entscheidend für die Gestaltung der Zukunft bleibt und nicht zu einem reinen Ritual und zur Folklore verkommt.

Was ich Ihnen heute auf den Weg mitgeben möchte, ist kein: „Wehret den Anfängen!“ – das sagt alles, aber auch nichts aus, versteht sich von selbst und ist längst abgegriffen. Was ich Ihnen sagen möchte, ist schlichtweg das, was mich selbst bewegt beziehungsweise das, was mich bei vielen meiner Mitmenschen stört – nämlich ein entweder freundlich distanziertes oder ein genervtes oder gar ein aggressives Unpolitisch-Sein; oder ein völlig unkritisches, wenig reflektieren Dahingleiten durch das Leben, ohne sich oder andere zu hinterfragen. Deshalb sage ich allen, weil mir das ein besonderes Anliegen ist: VERSUCHEN SIE BITTE, DIESE MENSCHEN ZU ERREICHEN, SIE ZUM NACHDENKEN, ZUM HINTERFRAGEN ZU BEWEGEN! Man muss nicht derselben Meinung sein, aber nachzudenken bringt schon sehr viel, und involviert statt gleichgültig zu sein, ist wichtiger als alles andere. Ich selbst bemühe mich, mit Andersdenkenden ins Gespräch zu kommen, ich bemühe mich, dort, wo es notwendig ist, zu widersprechen. Ich kann gar nicht anders, weil ich oft entsetzt, wütend und empört bin.

Was oder wer mich empört? Zum Beispiel jene Impfgegner:innen, die Bilder des Eingangstors des KZ Auschwitz mit hineinkopierter Aufschrift „Impfen macht frei!“ verschicken. Ich selbst habe solche Bilder von einigen Leuten erhalten. Ich verspüre immer noch ohnmächtige Wut, wenn ich daran denke. Immerhin, wenn auch viel zu spät, hat man solche Bilder verboten. Ich will, ja ich muss mit Menschen, die solche Ungeheuerlichkeiten herumschicken, diskutieren, ich will sie verstehen, ich möchte sie überzeugen, aber ich will mich nicht mit ihnen versöhnen, auch wenn dies hierzulande inzwischen oft gefordert wird.

Mich empören jene, die den Sozialabbau als scheinbar gottgegeben hinnehmen, in Zuwanderern, Asylsuchenden, sozial Schwachen und den Angehörigen von Minderheiten hingegen ihre Hauptfeinde sehen.

Wer mich besonders empört, sind jene, die angesichts des von Putin begonnenen Angriffs- und Vernichtungsfeldzugs auf einer vermeintlich gesetzlich verankerten politischen Neutralität pochen und damit einem faschistischen Regime in die Hände spielen. Und natürlich empören mich auch jene, die bei uns die Partei wählen, welche für diese faschistoide, menschenverachtende und pro-Putinsche Haltung steht. Erst recht gilt das für jene, die Putins Eroberungskrieg verharmlosen oder Verständnis dafür aufbringen, für jene, die einen Frieden um jeden Preis fordern, auch wenn dieser Preis auf jeden Fall die kulturelle, in vielen Fällen aber auch die physische Auslöschung der Ukrainer:innen bedeutet. Hätte man vor achtzig oder 85 Jahren für Hitlers Eroberungs- und Vernichtungspolitik ebenfalls Verständnis aufbringen und Frieden um jeden Preis fordern sollen? Man stelle sich vor, die Alliierten hätten das getan. Eine Appeasementpolitik bis zum bitteren Ende? Wäre dies der Fall gewesen, dann stünde ich nicht hier, denn es gäbe mich nicht. Und manche von Ihnen wahrscheinlich auch nicht.

Jene, die vor 1945 gelebt hatten, behaupteten später oft, sie hätten nichts gewusst oder hätten nichts gegen das Unrecht in ihrer Nachbarschaft tun können. Heute haben wir das nötige Wissen, jedenfalls wissen wir genug. Was tun wir gegen das Unrecht, gegen den Eroberungs- und Vernichtungskrieg, der heute stattfindet? Es möge sich jede und jeder fragen, ob sie oder er genug oder das Richtige tut.

Ich frage mich oft, warum Menschen nicht nachdenken! Nicht nachdenken zu können bedeutet meist, nicht nachdenken zu WOLLEN, das Offensichtliche nicht zu sehen, keine Querverbindungen herzustellen – oftmals aus Eigeninteresse, in den meisten Fällen aber schlichtweg aus Einfalt oder Bequemlichkeit. Wenden wir uns wider die Einfalt!

In den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts dachten viele Menschen ebenfalls nicht nach. Vielleicht wollten viele von ihnen niemandem etwas Böses. Sie hatten jüdische Freundinnen und Freunde, sind mit jüdischen Kameraden in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs gelegen und hatten danach mit diesen zusammen geschworen, dass es nie wieder Krieg geben werde. Vielleicht hatten sie 1932 und 1933 Hitler gewählt, weil sie das, was er sagte, für nichts als Wahlkampfrhetorik hielten; weil sie nur das sahen, was sie sehen wollten – die einfachen und schnellen Lösungen in Zeiten von Chaos, wirtschaftlichem Niedergang und einer bedrohlich steigenden persönlichen Unsicherheit.
Wer die Parallelen zur heutigen Zeit nicht erkennen kann, ist blind und – ignorant.

Ich wünsche mir viel mehr kritisches Denken in den Köpfen meiner Mitmenschen! Ich möchte, dass Menschen nachdenken und sich engagieren. Vor allem aber wünsche ich mir, dass zukünftige Generationen keine Gedichte mehr schreiben müssen wie zum Beispiel das folgende Gedicht der Shoah-Überlebenden Tamar Radzyner (1927-1991). „Wohnhaft“ heißt das Gedicht. Es zeigt, wie die Zeit nach dem Überleben aussehen kann:

Wohnhaft

Ich wohne auf dem Grund einer Sanduhr.

Es ist weich hier, träge, halbdunkel,

es regnet Sand, es rieseln winzige, runde Zeitstückchen.

Wenn ich am Ersticken bin, kippt das Glas um.

Von Luft erstochen, von Licht erblindet,

von Verlangen und Verzweiflung zerrissen,

lebe ich einen Augenblick lang.

Dann falle ich auf meinen Platz

am Grund einer Sanduhr.

Wir müssen uns bemühen, dass Menschen nicht mehr oder zumindest etwas seltener ihren Platz am Grund einer Sanduhr haben. Dass sie zu Hause in dieser Welt, anstatt unbehaust und nur wohnhaft sind. Erinnern sorgt dafür, dass die Zeitstückchen uns nicht ersticken und das Leben mehr als nur aus einzelnen, blinden Augenblicken von Verlangen und Verzweiflung besteht. Sich dafür einzusetzen, ist ein Versprechen für die Zukunft.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!


(c) Vladimir Vertlib

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